Rezension über:

Nadia Filippini: Pregnancy, Delivery, Childbirth. A Gender and Cultural History from Antiquity to the Test Tube in Europe, London / New York: Routledge 2020, XVI + 323 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-0-367-21107-3, GBP 104,00
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Rezension von:
Martina Sochin-D'Elia
Universität Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Martina Sochin-D'Elia: Rezension von: Nadia Filippini: Pregnancy, Delivery, Childbirth. A Gender and Cultural History from Antiquity to the Test Tube in Europe, London / New York: Routledge 2020, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 6 [15.06.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/06/37700.html


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Nadia Filippini: Pregnancy, Delivery, Childbirth

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Frau-Sein und Mutter-Sein waren über Jahrhunderte hinweg untrennbar miteinander verknüpft. Der Wert einer Frau, ihre Rolle in Familie und Gesellschaft gingen einher mit ihrem Dasein als Mutter. Die Geschichte der Geburt darf vor diesem Hintergrund nicht nur Institutionengeschichte sein, sondern muss in einen größeren Kontext der Frauengeschichte sowie Kultur- und Mentalitätsgeschichte gestellt werden.

Die Themen Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft sind aktuell, gerade aber die longue durée wurde dabei in der Vergangenheit vielfach außer Acht gelassen. Im April 2023 trafen sich in Magdeburg im Rahmen der interdisziplinär ausgerichteten Tagung "Gebären - Geburtshilfe - Mutterschaft in Geschichte und Gegenwart" über 200 Historikerinnen, Politologinnen, Sozialwissenschaftlerinnen wie auch Hebammen und andere Fachpersonen aus dem Gesundheitsbereich, um dem Fehlen einer Langzeitperspektive entgegenzutreten und sich mit Konzepten, Praktiken und Rechtsvorschriften um Gebären, Geburtshilfe und Mutterschaft auseinanderzusetzen. [1]

Nadia Maria Filippini, die seit den 1990er Jahren zur Geburtshilfe und zum reproduktiven Verhalten von Frauen publiziert, nimmt in ihrem Buch genau jene Langzeitperspektive in den Blick, die im Hinblick auf das Geburtsgeschehen bislang häufig fehlte. Es handelt sich dabei um die nun auf Englisch erschienene und gleichzeitig erweiterte Version ihrer 2017 auf Italienisch erschienenen Studie. In vier Hauptkapiteln geht Nadia Maria Filippini den Menschen, Ritualen, Praktiken und Orten des Geburtsgeschehens nach. In erster Linie ist ihr Buch eine historische Analyse. Der von ihr gewählte Ansatz, auch kultur- und mentalitätsgeschichtliche Perspektiven in den Vordergrund zu stellen, führt gewinnbringend dazu, dass sie an vielen Stellen nicht in der Vergangenheit verharrt, sondern - im Sinne der longue durée - auf gegenwärtig immer noch vorhandene Traditionen hinweist.

Die übergeordneten Hauptkapitel II bis IV sind chronologisch geordnet und beleuchten in dieser Chronologie das Geburtsgeschehen von der Antike bis in die heutige Zeit. Innerhalb dieser Hauptkapitel folgen die einzelnen Kapitel einer thematisch angelegten Struktur. Den Hauptkapiteln II bis IV ist ein kurzes erstes Hauptkapitel vorangestellt, das sich einführend der kulturellen Repräsentation des Gegensatzes von Weiblichkeit und Männlichkeit widmet. Der Ansatz, die Geburtshilfe als Dichotomie zwischen weiblich und männlich zu beschreiben, ist in der historischen Forschung nicht neu. Gerade im Hinblick auf den Medikalisierungsprozess der Geburtshilfe im 18. und 19. Jahrhundert wurde dies in der Forschungsliteratur bereits breit thematisiert. Nadia Maria Filippini verdeutlicht in diesem Kapitel jedoch anhand von mehreren aus der griechischen Antike oder dem Christentum stammenden Denkmustern, wie das Geschehen Geburt schon viel früher gegendert wurde und die Nachwehen davon teils bis heute feststellbar sind.

Die zeitliche Einteilung der Hauptkapitel in eine Zeit von der Antike bis zum Ende des 17. Jahrhunderts (II), gefolgt vom Medikalisierungsprozess in der Geburtshilfe im 18. und 19. Jahrhundert (III) bis hin zu den Ende des 19. und dann verstärkt im 20. Jahrhundert auftretenden gesellschaftlichen Veränderungen mit ihren Auswirkungen auf das reproduktive Leben einer Frau (IV) verwundert nicht. Nadia Maria Filippini orientiert sich diesbezüglich an den großen Brüchen, die die historische Forschung für die Geburtshilfe ausgemacht hat.

Das Hauptkapitel II wurde von Nadia Maria Filippini aber zunächst wegen seiner Kontinuitäten in theoretischer und praktischer Geburtshilfe zeitlich so festgelegt und widmet sich den Themen Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett, aber auch der sozialen Geburt und dem Hebammenwesen. Das medizinisch generierte Wissen in der Geburtshilfe bestand über mehrere Jahrhunderte hinweg im Denken der Tradition von Hippokrates, Aristoteles, Soranus und Galen. Auch wenn sich das anatomische und physiologische Wissen über den menschlichen Körper bereits ab dem 16. Jahrhundert gewandelt hat, die Bereiche Reproduktion und Embryologie blieben dabei weitestgehend ausgespart und erfuhren erst im 18. Jahrhundert ihre Blütezeit. Bis ins 17. Jahrhundert verweist Nadia Maria Filippini zudem auf einen inzwischen vielfach belegten Umstand, nämlich das Geschehen der Geburt als einen weiblichen Schauplatz, der erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts mit dem Einzug von männlichen Geburtshelfern aufgelöst wurde.

Aus Hauptkapitel III sprechen die wesentlichen Veränderungen, die die Geburtshilfe im 18. und 19. Jahrhundert erfahren hat: die von Staat und Kirche vorangetriebene Institutionalisierung des Hebammenwesens, der Einzug von männlichen Geburtshelfern, das Aufkommen von institutionalisierten Entbindungshäusern sowie die Entdeckung des Fötus als eigenständiges Wesen und all diesen daraus resultierenden Implikationen; hier seien nur die Diskussionen über die Durchführung von Kaiserschnitten zur Rettung von Mutter und/oder Kind genannt. Nadia Maria Filippini weist dabei besonders darauf hin, dass die Vorstellungen über den weiblichen Körper in seiner reproduktiven Funktion in dieser Zeit auf den Kopf gestellt wurden.

Das vierte Hauptkapitel schließlich ist dem ausgehenden 19. und dem 20. Jahrhundert gewidmet. Im Vergleich zu den vorangehenden Hauptkapiteln ist es wiederum eher kurzgehalten. Dabei kommen die Möglichkeiten der persönlichen Geburtenkontrolle um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ebenso zur Sprache wie staatlich implementierte eugenische Maßnahmen, der Übergang von der Hausgeburt zur Krankenhausgeburt wird ebenso angesprochen wie die feministische Frauenbewegung und ihre Forderung auf Abtreibung, die Einführung des Ultraschalls in der Geburtshilfe ebenso wie die zum Ende des 20. Jahrhunderts hin gängig gewordenen künstlichen Reproduktionsmethoden.

Dem Titel folgend verspricht das Buch eine europäische Geschichte der Geburtshilfe in der Langzeitperspektive. Diesem Anspruch kommt Nadia Maria Filippini nach, auch wenn die im Buch zu findenden Beispiele aus ihrer italienischen Heimat sicher weitaus zahlreicher sind als diejenigen aus anderen europäischen Ländern. Nadia Maria Filippini vermag es, den Bogen gekonnt von der Vergangenheit in die Gegenwart zu spannen, Kontinuitäten und Brüche zu nennen, ohne die relevanten Details auszulassen. Ihrem Ansinnen, darzulegen, wie sich das medizinische Wissen der Geburtshilfe in einen breiteren kulturellen Kontext eingefügt hat, kommt sie nach. Dabei sind vor allem jene Stellen interessant, in denen sie darauf hinweist, wie Praktiken in der Geburtshilfe auch nach einem in den medizinischen Wissenschaften stattgefundenen Umdenken im Volkstum meist noch viel länger Bestandteil einer gelebten Kultur waren.


Anmerkung:

[1] Vgl. Gebären - Geburtshilfe - Mutterschaft in Geschichte und Gegenwart, in: H-Soz-Kult, 13.02.2023; https://www.hsozkult.de/event/id/event-133969 [15.05.2023].

Martina Sochin-D'Elia