Rezension über:

Marie Czarnikow: Diaristik im Ersten Weltkrieg. Zwischen Alltagspragmatik und Privathistoriographie (= Minima- Literatur- und Wissenschaftsgeschichte kleiner Formen; Bd. 5), Berlin: De Gruyter 2022, 416 S., 33 Farb-, 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-076497-0, EUR 99,95
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Rezension von:
Gerd Krumeich
Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Paul Blickle
Empfohlene Zitierweise:
Gerd Krumeich: Rezension von: Marie Czarnikow: Diaristik im Ersten Weltkrieg. Zwischen Alltagspragmatik und Privathistoriographie, Berlin: De Gruyter 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 6 [15.06.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/06/37956.html


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Marie Czarnikow: Diaristik im Ersten Weltkrieg

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Tagebücher aus dem Ersten Weltkrieg sind eine begehrte und seit Jahrzehnten vielgenutzte, weil anschauliche Quelle zur Geschichte sowohl von Soldaten als auch von Zivilisten. Bereits während der Jahre 1914-1918 und verstärkt in der Weimarer Republik wurden sie aus zumeist propagandistischen Zwecken auch in gesammelter und gedruckter Form angeboten. Ernst Jüngers "In Stahlgewittern" ist nur die Speerspitze dieser Art der Vermarktung und gleichzeitigen Umgestaltung von Kriegstagebüchern.

Über die Dimensionen und speziellen Ausformungen dieser Produktion und ihrer Instrumentalisierung war aber wenig bekannt. Marie Czarnikow bietet mit diesem Buch - die überarbeitete Fassung einer im Jahr 2020 am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin eingereichten Dissertation - nunmehr eine weitestgehend gelungene Systematisierung. Dabei beschreibt sie ihr Erkenntnisziel anfänglich weitaus bescheidener: Sie "möchte herausfinden, warum so viele Menschen verschiedenster Herkünfte ausgerechnet zur Form des Tagebuchs griffen, welche dokumentarischen Prämissen sie im Krieg fruchtbar machen konnten und welche zeitgeschichtlichen Prämissen mit ihrem Schreiben verbunden waren." (6). Wichtig ist, dass die massenhafte Tagebuch-Verfertigung erst mit dem August 1914 einsetzte, auch wenn es schon in früheren Kriegen Tagebücher gegeben hatte. Sehr viele Männer und Frauen waren schon vor 1914 des Lesens und Schreibens mächtig und hatten dann nach Kriegsbeginn das Bedürfnis, die gerade erlebte "Große Zeit" für die eigene Erinnerung und als Dokument für "spätere Zeiten" festzuhalten. Nicht so sehr um die korrekte Schilderung der Kriegsereignisse gehe es den Schreibern und Schreiberinnen, sondern um die Herstellung von Erfahrbarkeit des Krieges. Hier wird etwas sehr Einfaches ziemlich kompliziert ausgedrückt (wie leider so oft in diesem Buch). Denn selbstverständlich sind Tagebücher "kein Spiegel des Kriegs, sondern ein Filter der Erlebnisse und Ereignisse (...)". Auch die folgende Bekundung ist nicht gerade erhellend: "Antworten auf die aufgeworfenen Fragen lassen sich sowohl diskursiv als auch praxeologisch anhand eines heterogenen Quellenkorpus finden." (16). Naja, aber es geht glücklicherweise nicht durchgehend so geschraubt zur Sache. Und was dann im ersten Kapitel untersucht wird, ist ausgesprochen spannend und neu. Zunächst werden die offiziellen Truppen-Tagebücher erfasst und mit den vielfach von denselben Verfassern geführten privaten Tagebüchern verglichen. Weiterhin wird gezeigt, wie die patriotische Begeisterung so vieler für den Krieg dazu führte, dass sehr viele Menschen aller sozialen Schichten ihre Erlebnisse aufschreiben wollten und auch sogleich von der Schreibwaren-Industrie entsprechend bedient wurden. Besonders für schreibwillige Soldaten gab es kleine Hefte, die am Körper getragen und in Ruheposition oder der Etappe angefüllt werden konnten. Welche Auswirkungen auf die Art zu schreiben dieses Mini-Format hat, ist hochinteressant geschildert. Hübsch auch die "Kriegsmerkbücher" und die vielen Angebote für die Tagebuchschreiber im Felde. Es gab sogar Durchschreibe-Tagebücher für den Fall, dass man seine Erlebnisse und Empfindungen gleich an mehrere Adressaten verschicken wollte. Oder auch weil viele befürchteten, dass ihre Notizen verloren gehen könnten, wenn man "im Felde" umkam. Ob allerdings das entsprechende Unterkapitel mit "Umpragmatisierte Durchschreibebücher als Tagebuchmedien der Wahl" verständlich betitelt war, sei dahingestellt...

Ein besonderer Platz wird den Kriegstagebüchern im besetzten Frankreich unter dem Titel "Schreiben als Widerstand" eingeräumt (108ff.). Die Verfasserin kennt sehr genau die dazu bereits existierenden Arbeiten (Philippe Nivet, Annette Becker, James Connolly, Manon Pignot) und hebt stark das vor einigen Jahren gedruckte Tagebuch von Yves Congar, dem späteren Kardinal der römisch-katholischen Kirche, hervor, der im Weltkrieg als Kind die Besetzung von Sedan erlebte und im Alter von 10 Jahren begann, ein ebenso kindliches wie umfassend informierendes Tagebuch zu führen, in dem er sogar Plakate der Besatzungsmacht nachzeichnete (ein Beispiel auf Seite 116).

Auch Kap. 3 über die publizierten Tagebücher (ab 160) bietet eine spannende und in vielem weiterführende Lektüre. Beispielsweise die propagandistische Ausbeutung der Tagebücher, die die Franzosen bei deutschen Gefallenen oder Kriegsgefangenen gefunden hatten. Der Streit um deren Authentizität und bewusste Verfälschungen während und nach dem Krieg wird sehr kenntnisreich nachgezeichnet.

Weiterführend auch die folgenden Seiten 160 bis 186 über das Sammeln und Publizieren von Tagebüchern, wobei die Verfasserin weit ausholt und die gesamte Zeit seit dem 1870er Krieg in den Blick nimmt. Sie kann hier zeigen - aber hätte das nicht schon an den Anfang des Buches gehört? -, dass Tagebücher und Kriegstagebücher durchaus eine stabile Tradition hatten, als sie dann 1914 zum Massenschriftgut wurden.

Im zweiten Teil des Buches (ab 219), der ca. 150 Seiten umfasst, geht es im Wesentlichen um die "Zeithorizonte der Diaristik". Die Verfasserin zeigt, wie sehr das Tagebuchschreiben formal und inhaltlich auch an die Art und Weise gebunden war, wie die Ereignisse der "großen Zeit" von der Presse ausgeschlachtet und kommuniziert wurden. Es gab hier auch eine Art "Imperativ der Aktualität", welche den Erlebnishorizont der Tagebücher vollkommen überwuchern konnte (270ff.).

Am Schluss wird noch einmal die "Diaristik zwischen Alltagspragmatik und Privathistoriographie" aufgegriffen, auch das hätte frau einfacher und verständlicher sagen können.

Abgesehen von diesen stilistischen Problemen (gibt es denn gar keine Lektoren mehr?), ist diese Arbeit gelungen und empfehlenswert. Denn sie hat ein Feld beackert, das vorher zwar schon einigermaßen bekannt war, nun aber reichen Ertrag für weitere Forschungen im Bereich des "Kriegserlebnisses" und dessen gesellschaftliche Voraussetzungen und Deformierungen verspricht.

Gerd Krumeich