Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Berlin: Ullstein Verlag 2023, 222 S., ISBN 978-3-550-20234-6, EUR 19,99
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"Nichts von dem, was ich hier sage, ist neu, aber es scheint an der Zeit, es abermals und vielleicht anders zu sagen." (74). Dieser Satz ist für die Einordnung von Dirk Oschmanns Spiegel-Bestseller für Kennerinnen und Kenner der Forschung zu Ostdeutschland und Ostmitteleuropa essentiell: Denn nach Ilko-Sascha Kowalczuks "Die Übernahme" (2019), Ivan Krastevs "Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung" (2019) und Steffen Maus "Lütten Klein" (2019) scheint die Forschungsdebatte zur Bilanzierung und Einordnung von Wiedervereinigung und Transformation ein hohes fachliches Niveau erreicht zu haben.
Dass nun der Leipziger Professor für Neuere deutsche Literatur, der bis 2022 eher mit Veröffentlichungen zum Werk von Siegfried Kracauer, Friedrich Schiller und Franz Kafka an die Öffentlichkeit getreten ist, ein Buch vorlegt, das viel breiter als Kowalczuks oder Maus elaborierte Arbeiten rezipiert und diskutiert wird, überrascht. Oschmann changiert zwischen bereits bekannten Fakten über die "Wiedervereinigungsgesellschaft" (Thomas Großbölting), reformuliert diese aber in einem persönlichen und populären Stil. Dass der Autor hierbei nicht streng wissenschaftlich differenziert vorgeht, wie Oschmann freimütig zugibt (151), kann ein zweckdienlicher Anstoß für die gesellschaftspolitische Debatte sein. Doch Oschmann nutzt die Klaviatur der Identitätspolitik, der er eigentlich gar nicht anzuhängen scheint, in einer solch selektiven Art und Weise aus, dass das Buch gleichzeitig das Niveau der Debatte zurückzuwerfen droht.
Doch zunächst zum Inhalt: Das Buch gliedert sich in neun Kapitel, wobei die ersten drei zum Problemaufriss dienen; in ihnen ordnet sich Oschmann selbst biografisch und politisch ein. Zwar sei er als Professor ein Teil der urbanen, akademischen Mittelschicht, aber er werde in Deutschland immer ein Ostdeutscher bleiben. Ostdeutsch zu sein, und dies ist der Tenor des Buches, sei eine Zuschreibung, die zumeist von westdeutsch geprägten Medien getroffen würde. So skandalisiert Oschmann unter anderem die Zeitungscover verschiedener Medien, wenn diese wieder einmal den Osten mit "Herabwürdigung und Häme" (32) überzögen.
In den Kapiteln vier bis sechs seziert der Autor die "Zuschreibungsspiele", unter denen die Ostdeutschen seit 1990 leiden müssten und die dazu geführt hätten, dass "hier kein intaktes Selbstverhältnis" (77) ausgebildet werden konnte. Oschmann geht es hier stets um Zuschreibung und Projektionen, die er dekonstruiert. Es handelt sich also um einen scheinbar postmodernen Ansatz, in dem prekäre Identitäten, Privilegien und Sprechorte verhandelt werden.
In Kapitel sieben schildert er die verschiedenen Reaktionen auf seinen, dem Buch zugrundeliegenden, FAZ-Artikel von 2022, um dann anschließend in Kapitel acht in einem kenntnisreichen Exkurs auf die "Kulturkämpfe" in der Rezeption der DDR-Literatur und Kunst einzugehen.
In Kapitel neun fasst Oschmann seine Ausführungen zusammen, wobei er sich hier nur sehr unbefriedigend von den Debattenbeiträgen von Jana Hensel und Wolfgang Engler [1] oder den "jungen Autoren" der "Baseballschlägerjahre" abgrenzt.
Oschmann zeigt immer wieder sachlich auf, warum sich der Osten zu Recht benachteiligt fühle. Er nennt aktuelle Zahlen, die belegen, dass die Lebensbedingungen im Osten 30 Jahre nach der Einheit nicht den westdeutschen Standard erreicht haben: So macht er auf den statistisch nachgewiesenen Pay Gap von 22 Prozent zwischen Ost und West aufmerksam (120), der letztlich auch dazu führe, dass Menschen in Ostdeutschland kein Vermögen aufbauen könnten (121) und eher an die Ostsee führen, statt im Urlaub an exotische Ziele zu fliegen (147).
Diese Tatsachen nutzt Oschmann schließlich, um zu erklären, warum die AfD, die ihren Ursprung im Westen hat, worauf er berechtigterweise hinweist, solch großen Wahlerfolg im Osten einfährt. Seine Argumentation bleibt allerdings lückenhaft: Denn warum wenden sich nun die Ostdeutschen aufgrund des niedrigeren Lebensstandards ausgerechnet rechten bis rechtsextremen Parteien zu, anstatt sich beispielsweise in Gewerkschaften oder Nachbarschaftsinitiativen zu engagieren? [2] Dies will und kann Oschmann nicht erklären.
Ein Grund dafür ist seine selektive Pointierung und Zuspitzung: So führt er aus, dass viele Funktionäre des rechts- bis rechtsextremen Milieus aus Westdeutschland stammen und nennt hier explizit Götz Kubitschek als intellektuellen Vordenker der AfD. Hier ist es Oschmann wichtig zu betonen, dass dieser aus dem deutschen Südwesten kommt, der das "Eldorado für Verschwörungstheoretiker" (100) bilde. Damit hat Oschmann recht, schließlich begannen die wissenschaftsfeindlichen Protestbewegungen gegen die Corona-Einschränkungen 2020 in Stuttgart. Er unterlässt es aber im ganzen Buch zuzugeben, dass neben Schwaben auch Sachsen ein historisches Zentrum der Verschwörungsideologie und sogenannten Alternativmedizin war und ist. So wurden in beiden Regionen schon vor der Reichsgründung ab 1869 die ersten Impfgegnerorganisationen gegen die staatlich verordnete Pocken-Impfung gegründet. [3] Deshalb ist es kein Zufall, dass bis heute in der Leipziger Innenstadt ausgerechnet auf dem nach dem Antisemiten Richard Wagner benannten Platz ein Denkmal für den Begründer der nicht wissenschaftlich fundierten Homöopathie steht, den aus Meißen stammenden Samuel Hahnemann.
Doch den Osten als komplexen Sozialraum mit seiner eigenen Geschichte und Kultur darzustellen, unterlässt Oschmann. Wenn er im Kapitel fünf das Bundesland Sachsen und hier insbesondere dessen Landeshauptstadt Dresden herausgreift, um dieses als "Osten des Ostens" zum Paradefall des westdeutschen Medienbashings zu erklären, will er nicht zugeben, dass sich dort seit 2014 tatsächlich die stärkste kontinuierliche rassistische Mobilisierung in der Bundesrepublik versammeln kann: Pegida. Dass viele junge Menschen, insbesondere mit Migrationshintergrund, die Stadt Dresden und das Umland nach Schul- oder Studienabschluss aus ebenjenen Gründen schleunigst verlassen, sollte eigentlich Evidenz genug sein. [4]
Doch leider geht Oschmann in seinem Buch nicht auf diejenigen Menschen mit ostdeutscher Herkunft und Sozialisation ein, die nicht-weiß sind. Für Oschmann sind die benachteiligste Gruppe nach 1990 die "ostdeutschen Männer", da diese seitdem "systematisch" ausgegrenzt, "verhöhnt", und "gedemütigt" worden sein (37). Diese vermeintliche Feststellung trifft Oschmann ohne jede Herleitung, und der kritische Leser fragt sich: Welche prekäre Erfahrung musste die große Gruppe der vietnamesischstämmigen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter in den 1990er Jahren machen, die als erste ihre Arbeit in den VEBs verloren, über einen illegalisierten Aufenthaltsstatus verfügten und bei rassistischen Pogromen wie in Rostock-Lichtenhagen um ihr Leben fürchten mussten? Ist "ostdeutsch" für Oschmann nur weiß, "atheistisch und erz-protestantisch" und sächsisch-thüringisch sprechend?
Oschmann beschäftigt sich auch nicht ernsthaft mit der in den sozialen Medien geführten Debatte über die "Baseballschlägerjahre", er interessiert sich anscheinend auch nicht für die prekäre Erfahrung der jüdischen und migrantischen Minderheit nach dem Mauerfall, die mittlerweile publizistisch und literarisch dokumentiert ist. [5]
Bei aller Kritik bleibt erfreulich, dass Oschmann mit seinem Buch eine Debatte anstößt, die endlich gesamtdeutsch geführt werden müsste: Das Versprechen der blühenden Landschaften wurde nie eingelöst, die Lebensbedingungen in Ost und West sind immer noch nicht gleich und dies stellt ein Problem für die Demokratie dar.
Anmerkungen:
[1] Wolfgang Engler / Jana Hensel: Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein, Berlin 2018.
[2] Malte Lübker / Thorsten Schulten: Tarifbindung in den Bundesländern. Entwicklungslinien und Auswirkungen auf die Beschäftigten, Düsseldorf 2023; https://www.boeckler.de/fpdf/HBS-008594/p_ta_analysen_tarifpolitik_96_2023.pdf [16.05.2023].
[3] Bärbel-Jutta Hess: Seuchengesetzgebung in den deutschen Staaten und im Kaiserreich vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Reichsseuchengesetz 1900, Diss. Heidelberg 2009, 149 und 153; https://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/10458/1/dissertation_15_02_10.pdf [16.05.2023].
[4] MDR aktuell vom 25.02.2022: "Raus aus Ostdeutschland, wenn Rassismus nicht mehr auszuhalten ist"; https://www.mdr.de/nachrichten/podcast/mdr-investigativ/podcast-ost-rassismus-investigativ100.html [16.05.2023].
[5] Lydia Lierke / Massimo Perinelli (Hgg.): Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive, Berlin 2020, und Grit Lemk: Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror, Berlin 2021.
Adrian Weiß