Rezension über:

Hans-Peter Kriemann: Hineingerutscht? Deutschland und der Kosovo-Krieg (= Bundeswehr im Einsatz; Bd. 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 487 S., 7 Kt., 6 Farbabb., ISBN 978-3-525-31135-6, EUR 45,00
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Rezension von:
Klaus Buchenau
Universität Regensburg
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Klaus Buchenau: Rezension von: Hans-Peter Kriemann: Hineingerutscht? Deutschland und der Kosovo-Krieg , Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 9 [15.09.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/09/36417.html


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Hans-Peter Kriemann: Hineingerutscht?

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Bei Arbeiten am laufenden Motor kann man sich bekanntlich verbrennen. Als eben solche bezeichnet der Autor, Bundeswehroffizier und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Militärgeschichte der Bundeswehr in Potsdam, seine Dissertation. Den Motor vor der Reparatur abzustellen, würde nach dieser Metapher bedeuten, die Sperrfrist der Archive abzuwarten und sich erst dann an die Arbeit zu machen. Dieses früher in der Geschichtswissenschaft selbstverständliche Verfahren verträgt sich offenbar nicht recht mit der Ungeduld der Gegenwart, die am liebsten Geschichten aus dem Heute und Morgen hätte oder auch mit der "Aufarbeitung" von Konflikten beginnt, während die Colts noch rauchen. Am laufenden Motor zu arbeiten, bedeutete für Kriemann, über eigens zu stellende Anträge an Akten der Bundesregierung, des Außen- und Verteidigungsministeriums zu kommen, Interviews mit Zeitzeugen zu führen und so eine empirisch möglichst dichte Studie über die deutsche Beteiligung an der Bombardierung der Bundesrepublik Jugoslawien durch die NATO 1999 zu erstellen. Um es vorwegzunehmen: Dieses Vorhaben ist ihm geglückt, das umfangreiche Werk bietet zwar keine vollkommen neuen Einsichten, aber sehr wohl einen großen, gut begründeten Narrationsbogen, in dem eine Fülle von bislang wenig oder gar nicht bekannten Details aufgehängt sind. Dabei spielen Aktenbestände aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts und aus dem Bundesarchiv eine entscheidende Rolle.

Kriemanns Erzählung ist an sich Mainstream - in dem Sinne, dass er sowohl den NATO-Luftkrieg als auch die deutsche Beteiligung daran als letztlich alternativlos darstellt. Daraus ergibt sich die Frage, ob Arbeiten am laufenden Motor, so spannend sie auch sein mögen, nicht doch einen gewissen Konformismus fördern, denn staatliche Institutionen haben durch ihre Genehmigungsprozeduren innerhalb der Sperrfrist ja die Möglichkeit sich auszusuchen, wem sie welches Material geben. Das entwertet diese Forschungen nicht, aber im vorliegenden Fall fällt doch auf, dass Kriemann zwar diverse Widersprüche der deutschen Politik herausarbeitet, die Auseinandersetzung mit ihnen aber letztlich einem harmonisierenden Narrativ unterordnet, das der Regierung wie auch der Bundeswehr signalisiert: Auch wenn vieles schiefging, haben wir doch alles richtig gemacht.

Kriemann zeichnet, beginnend mit der deutschen Wiedervereinigung 1990, das Bild eines Landes, das schrittweise akzeptiert, dass die eigene Armee nicht nur zur Landesverteidigung da ist, sondern sogar jenseits des NATO-Territoriums eingesetzt werden kann. Hier deckt Kriemann den ersten Widerspruch auf - die Bundesregierungen im Untersuchungszeitraum (bis 1998 von Helmut Kohl, danach von Gerhard Schröder geführt) legitimierten das schrittweise anwachsende militärische Engagement nach innen mit der deutschen Geschichte (ebenso wie sie vorher das Gegenteil, nämlich die militärische Abstinenz, mit derselben Geschichte gerechtfertigt hatten), dachten aber auf den Korridoren der Macht vor allem darüber nach, wie sie Deutschland als verlässlichen Bündnispartner darstellen konnten. Dazu gehört seit den Erfahrungen des hilflosen Zusehens bei den Massakern des Bosnienkrieges die Bereitschaft, sich auch militärisch einzubringen. Im Vorfeld des Kosovokrieges, im Oktober 1998, versprach die frisch ins Amt gewählte rot-grüne Bundesregierung den NATO-Partnern eine Beteiligung am Einsatz, allen voran den auf eine militärische Lösung fixierten USA; erst danach wurde der Bundestag gefragt. Da für diesen Einsatz kein UN-Mandat vorlag, hätte ein demokratisch transparenteres Vorgehen keinen sicheren Ausgang gehabt. Kriemann problematisiert diesen Befund nicht weiter, was schade ist - haben doch Verfahren wie dieses die Politikskepsis angefacht, unter der Deutschland heute so leidet. Stattdessen betont Kriemann wiederholt die positiven Möglichkeiten, die sich aus dem Mitmachen ergaben - Deutschland wurde ernst genommen; es galt als Hauptverbindung zu Russland, das der Westen - zumindest halbherzig - auch irgendwie im Boot einer gemeinsamen Balkanpolitik halten wollte; und nur weil es militärisch mitmischte, konnte es auch diplomatische Initiativen einbringen, etwa den Stabilitätspakt Südosteuropa, der von der Bundesregierung im Frühjahr 1999 ersonnen wurde, noch während deutsche Aufklärungsflugzeuge über Jugoslawien kreisten.

Eine Schwäche dieser optimistischen Erzählung ist, dass der Scherbenhaufen westlicher Politik in der Gegenwart nicht mitbedacht wird - bekanntlich nutzte der russische Präsident Putin die Erfahrung, in der Kosovofrage übergangen worden zu sein, zur zynischen Karikierung westlicher Interventionen, indem es mit sich mit scheinbar menschenrechtlichen Argumentationen in Georgien und dann in der Ukraine einmischte. Wo Kriemann den Stabilitätspakt als deutsche Idee zur europäischen Integration Südosteuropas hervorhebt, hätte es nicht schaden können, wenigstens kurz auf die Blockaden des Integrationsprozesses heute zu schauen, die sich insbesondere im Verhältnis zwischen Serbien und Kosovo zeigen.

Dennoch ist das Buch eine Bereicherung. Schön ist etwa, wie Kriemann Politik- auf Militärgeschichte treffen lässt. Weil er beides gleichermaßen sorgfältig ausarbeitet, kann er zeigen, wie deutsche Politiker das Androhen von Gewalt gegen Miloševićs Serbien letztlich eher als Druckmittel einsetzten, um Belgrad zu ernsthaften Verhandlungen über den Rückzug von Polizei und Militär aus dem Kosovo zu bewegen. Den NATO-Generälen bereiteten sie damit Kopfschmerzen - denn eine Drohung kann nur dann wirken, wenn sie auch wirklich glaubhaft ist. Daher mussten den eskalierenden Worten immer auch intensive Einsatzplanungen folgen, bei denen nicht klar war, ob sie jemals gebraucht würden. Trotz der seit 1998 immer detailreicheren militärischen Pläne wurde der Einsatz von Bodentruppen eher schwach durchgeplant, weil man davon ausging, dass allein die Drohungen von Bomben (die Kriemann euphemistisch "Luftschläge" nennt) Milošević zum Einlenken bewegen würde.

Lesenswert sind auch viele Vignetten, etwa wenn Kriemann vom NATO-Lufteinsatz über Bosnien berichtet (auch diese deutsche Kriegsbeteiligung hat er gründlich aufgearbeitet). Im Bosnien- wie dann auch später im Kosovokrieg leisteten die Deutschen Luftaufklärung mit besonders dafür ausgerüsteten Kampfflugzeugen vom Typ "Tornado". Angesichts des Widerwillens in Teilen der deutschen Öffentlichkeit wollte die Bundeswehr mögliche Kollateralschäden bei der Selbstverteidigung der Aufklärungsflugzeuge unbedingt vermeiden und formulierte daher zunächst eine Regel, wonach deutsche Piloten erst dann auf serbische Radarstellungen schießen durften, wenn "deren Radar die deutschen Flugzeuge mindestens sechs Sekunden lang erfasst hatte"; dies sei "ein Alptraum für die deutschen ECR-Besatzungen" gewesen (161). Beim Kosovokrieg hatten sich diese Skrupel dann verflüchtigt, es durfte sofort losgefeuert werden.

Für die große Politik bedeutender sind Kriemanns Recherchen rund um die Friedenskonferenz von Rambouillet, deren Scheitern am 23. März 1999 für die NATO das Signal zum Losschlagen war. Die von der US-Administration ersonnenen Details zur militärischen Implementierung (Kapitel 7 und Anhang B) wurden bis zuletzt vor der serbischen Regierung und teilweise auch vor den europäischen NATO-Partnern geheim gehalten. Der deutsche Außenminister Joschka Fischer war offenbar eingeweiht, verheimlichte diesen Teil des Abkommens aber in seinem eigenen Ministerium und vor dem Bundestag - nur der Verteidigungsausschuss, der bekanntlich hinter verschlossenen Türen tagt, wurde in letzter Minute informiert. Angesichts der Brisanz dieser Vertragsteile, die eine freie Beweglichkeit und Straffreiheit der westlichen Truppen in ganz Jugoslawien vorsahen, war eine Ablehnung durch Serbien vorauszusehen.

Es ist erstaunlich, dass Kriemann die amerikanische Dominanz, die Geringschätzung der eigenen Partner zwar dokumentiert, aber am Ende keine Schlüsse daraus zieht - so als sei ihr Urteil, mit Milošević hätten Verhandlungen ohnehin keinen Sinn gehabt, nicht weiter hinterfragbar. Ähnlich ist es mit Kriemanns Einschätzung der albanischen UÇK-Guerilla, der er zu Recht vorwirft, Opfer in der eigenen Zivilbevölkerung absichtlich heraufbeschworen zu haben, um den Konflikt leichter internationalisieren zu können, was ihr schließlich auch gelang; oder für seine Einsicht, dass die Vertreibungen von Albanern ihren Höhepunkt erst nach dem Beginn des NATO-Luftkriegs erreichten, obwohl gerade dies hatte verhindert werden sollen. Kriemann erkennt all diese Dinge an, aber sie ändern nichts an seiner Haltung, dass der westliche Einsatz richtig war und half, Deutschland in der Weltpolitik zu etablieren. Vielleicht sollte man während der nächsten Inspektion am laufenden Motor, bei aller Verletzungsgefahr, doch einmal genauer schauen, warum dieser nicht wirklich rund läuft.

Klaus Buchenau