Rezension über:

Charles Dick: Builders of the Third Reich. The Organisation Todt and Nazi Forced Labour, London: Bloomsbury 2022, IX + 265 S., ISBN 978-1-350-18266-0, EUR 106,10
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Johannes Meerwald
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Meerwald: Rezension von: Charles Dick: Builders of the Third Reich. The Organisation Todt and Nazi Forced Labour, London: Bloomsbury 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 9 [15.09.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/09/37336.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Charles Dick: Builders of the Third Reich

Textgröße: A A A

Forscht man zur Organisation Todt (OT), der staatlichen Bauorganisation des "Dritten Reichs", stößt man nicht selten auf Superlative: Der britische Geheimdienst sprach 1945 in einem Bericht vom "größten Bauprogramm seit den römischen Zeiten", das die OT während des Krieges umgesetzt habe. Auch Adolf Hitler, dem die Bauorganisation im Staatsgefüge persönlich unterstellt war, bezeichnete die OT noch ein Jahr vor Kriegsende als "größte Bauorganisation aller Zeiten". [1] Die historische Bedeutung der OT ist unbestritten, war die Truppe doch an zahlreichen militärischen Bauprojekten im besetzten Europa federführend beteiligt und als Rad im Getriebe des deutschen Eroberungs- und Vernichtungskrieges fest verankert. Die Monografie des vielkritisierten Revisionisten Franz W. Seidlers aus dem Jahre 1987 ausgeklammert, stand die OT trotzdem lange im toten Winkel der seriösen Geschichtsforschung. [2] Die in den letzten Jahren erschienenen Regionalstudien von Simon Gogl über die OT in Norwegen und jene von Fabian Lemmes über den Einsatz in Frankreich und Italien belegen jedoch eine Kehrtwende. [3] Charles Dicks 2021 publizierte Studie schließt sich diesem Forschungstrend an. Sein Ziel ist es, einen Blick auf die Rolle der OT im nationalsozialistischen Zwangsarbeitssystem zu werfen und insbesondere die zahlreichen Opfer der Bauorganisation in den Vordergrund zu stellen.

Der Verfasser macht in seiner weitestgehend thematisch gegliederten Studie glaubhaft, dass es im Führerstaat vor allem der architekturbegeisterte Hitler war, der der OT seit ihrer Gründung im Jahr 1938 zu ihrem rasanten Aufstieg verhalf. Naheliegend also, dass auch der Gründer und Namensgeber der Organisation, Fritz Todt, in der Gunst Hitlers vom Generalinspektor für das Straßenwesen im Jahr 1940 zum Reichsminister für Bewaffnung und Munition avancierte. Nach dessen Tod zwei Jahre später übernahm ein weiterer Günstling des "Führers" das Ministerium und damit auch die Geschicke über die OT: Albert Speer. Dick zeigt, dass der von diesen beiden Männern sehr unterschiedlich geleiteten paramilitärischen Bauorganisation neben der Wehrmacht, der SS und der Rüstungsindustrie eine entscheidende Rolle in Hitlers Großmachtfantasien zukam. In diesem Konstrukt belegt er eine ausgeprägte Nähe zwischen nationalsozialistischer Ideologie und dem staatlich gelenkten Bauwesen. Todt habe seine Männer als "Arbeitersoldaten" angesehen, die "im Gleichschritt nicht nur mit der Armee sondern auch mit den paramilitärischen Einheiten der Nazi-Partei [...] marschieren sollten" (21).

Detailreich und gepaart mit viel Faktenwissen führt Dick den Leser in die Rolle der OT im besetzten Europa ein. Er beleuchtet die Schauplätze ihrer wichtigsten Einsätze, wie zum Beispiel in Norwegen beim Bau der Polarbahn, des Atlantikwalls in Frankreich, oder der Ausbeutung der Kupferminen von Bor im heutigen Serbien. Die OT war, so konstatiert der Autor zurecht, ein zentrales Instrument der deutschen Besatzungs- und Ausplünderungspolitik. Ebenso bleibt nicht unerwähnt, dass die OT im letzten Kriegsjahr auch im Reichsinneren operierte und dort irrwitzige Verlagerungsprojekte wie die von Hitler in Auftrag gegebenen "Jägerbauten" in Mühldorf am Inn und Landsberg am Lech plante und mit (primär jüdischen) Zwangsarbeitskräften aus den Konzentrationslagern der SS errichten ließ. Dabei stellt der Verfasser auch die Beziehungen zwischen der OT und der Wehrmacht, der SS, der NSDAP, oder der Rüstungsindustrie heraus und betont damit die feste Verankerung der Bauorganisation in den kriegführenden NS-Staat. All die genannten Aspekte betrachtet er stets durch die Linse der Zwangsarbeit. Dies ist erfreuliches Alleinstellungsmerkmal wie größter Schwachpunkt der Studie zugleich. Aufgrund seines nicht-chronologischen, thematischen Zugriffes, wechselt Dick immer wieder Zeit und Ort. Politische Entscheidungsprozesse und Radikalisierungslinien im Kontext von Krieg und Holocaust lassen sich somit nur bedingt nachvollziehen.

Ein eigenes Kapitel widmet der Verfasser den Opfern der OT, den unzähligen ausländischen Zwangsarbeitskräften. Dick argumentiert, dass die OT "ein integraler Bestandteil der Nazi Terrormaschinerie" (195) gewesen sei und auch zur Vernichtung der Juden beigetragen habe. Um dieses Argument zu untermauern, führt er insbesondere die von der OT geleiteten Selektionen in den Mühldorfer Außenlagern und die begangenen Verbrechen im Lagerkomplex Vaivara ins Feld. "Strukturelle Gewalt, die indirekt ausgeübt wurde" (108), so Dick unter Verwendung des Konzepts des Politikwissenschaftlers Johan Galtung, sei jedoch in den meisten Fällen hauptursächlich für die rund 185.000 Todesopfer der OT gewesen. Jüdinnen und Juden und Zwangsarbeitskräfte aus Osteuropa hätten, gemäß der Rassenhierarchie der Nationalsozialisten, unter der OT am meisten zu leiden gehabt. Die OT-Angehörigen wiederum kategorisiert Dick gemäß der Theorie Christopher Brownings als "ordinary men". Als Fallstudie führt der Verfasser die Biographie des OT-Haupttruppführers Winand Schneider ins Feld, einen verurteilten Verbrecher, der aus der SS und der NSDAP ausgeschlossen worden war und in Radoskowice als antijüdischer und sadistischer Gewalttäter herausstach. In das von Browning geformte Konzept passt Schneider, der gegenteilig eher als "Exzesstäter" im Sinne Mallmanns und Pauls beschrieben werden könnte, jedoch nicht. [4]

Dick hat eine gründlich recherchierte und detaillierte Studie über die Geschichte der OT im Kontext von Besatzung, Zwangsarbeit und Holocaust vorgelegt. Der Verfasser zeichnet das Bild einer Organisation, die eine herausragende Rolle bei der Ausplünderung der besetzten Gebiete spielte und zutiefst in die Ausbeutung und Vernichtung von Zwangsarbeitern verstrickt war. Der Autor schreibt stets empathisch und mit viel Verständnis für die Opfer der paramilitärischen Bauorganisation. Auch wenn sich insgesamt kein griffiger Gesamteindruck über das System der Zwangsarbeit der OT ergibt, ist seine Argumentation doch stets schlüssig und in den meisten Fällen korrekt. Da sie eine überregionale Perspektive einnimmt, lohnt sich ein Blick in Dicks Studie besonders als Ergänzung zu anderen kürzlich erschienenen Arbeiten über die Geschichte der OT im Europa unter dem Hakenkreuz.


Anmerkungen:

[1] Zit. nach Willi A. Boelcke (Hg.): Deutschlands Rüstung im Zweiten Weltkrieg. Hitlers Konferenzen mit Albert Speer 1942-1945, Frankfurt am Main 1969, 352.

[2] Franz W. Seidler: Die Organisation Todt. Bauen für Staat und Wehrmacht 1938-1945, Koblenz 1987.

[3] Simon Gogl: Laying the Foundations of Occupation. Organisation Todt and the German Construction Industry in Occupied Norway, Berlin / Boston 2020[KR1], und Fabian Lemmes: Arbeiten in Hitlers Europa. Die Organisation Todt in Frankreich und Italien 1940-1945, Köln 2021.

[4] Gerhard Paul / Klaus-Michael Mallmann: Sozialisation, Milieu und Gewalt. Fortschritte und Probleme der neueren Täterforschung, in: Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien, hgg. von Gerhard Paul / Klaus-Michael Mallmann, Darmstadt 2004, 1-32.

Johannes Meerwald