Melanie Hussinger: Russlands Letzte Adressen. Gesellschaftliches Erinnern an die Opfer des Stalinismus (= Menschen und Strukturen. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien; Bd. 25), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2022, 132 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-631-88892-6, EUR 27,95
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Wer sich nach 2013 aufmerksam durch die Straßen Moskaus, Sankt Peterburgs, Perms oder auch anderer größerer Städte Russlands bewegt hat, konnte eventuell kleine metallene Plaketten an einzelnen Häuserwänden entdecken. Unaufdringlich schmiegen sie sich an die Hauswände und es bedarf eines genauen Blicks, um festzustellen, dass sie an Personen erinnern, die unter Stalin Repressionen zum Opfer gefallen sind. Diese Plaketten markieren ähnlich wie die Stolpersteine im deutschsprachigen Raum die letzte Adresse, an der sich die Verfolgten vor ihrer Verhaftung aufgehalten haben.
Mit ihrem 2022 erschienenen Buch - oder eher Büchlein - geht Hussinger der Frage nach, wie sich die Initiative "Poslednij Adres" ("letzte Adresse") in die russische Erinnerungskultur einfügt, diese verändert und wie das Projekt selbst Erinnerung schafft (13). Hierzu erfahren der Leser und die Leserin zunächst etwas über die Geschichte der Repressionen und ihre bis heute kaum vorhandene gesellschaftliche, politische und juristische Aufarbeitung (Kapitel 2). Auf einen kurzen Abriss erinnerungstheoretischer Zugänge (Kapitel 3) folgt eine Darstellung der Genese der Initiative (Kapitel 4). Im 5. Kapitel ordnet Hussinger "Poslednij Adres" in die russische Erinnerungskultur ein und analysiert "Poslednij Adres" im Kontext staatlicher und kirchlicher Erinnerungsorte, der Gedenktafeln für prominente Hausbewohnerinnen und -bewohner und familiärer Erinnerungspraktiken auf Friedhöfen. Im Gesamtzusammenhang der russischen Erinnerungskultur wird dabei deutlich, dass "Poslednij Adres" der generellen Stoßrichtung, die Opfer und insbesondere Individuen in den Mittelpunkt der Erinnerung zu stellen, folgt. In Kapitel 6 beschreibt Hussinger die Aushandlungsprozesse zwischen Initiatoren und Staat beziehungsweise städtischen Behörden sowie den Hausbewohnerinnen und -bewohnern, die notwendig sind, damit eine Plakette überhaupt erst montiert werden kann. Hinsichtlich des Verhältnisses zu den städtischen Behörden zeigen sich lokale Unterschiede, was unterstreicht, dass staatlicherseits keine deutliche Stellungnahme gegen "Poslednij Adres" existiert, lokale Behörden vielmehr autonom restriktiv agieren (89). Auch im Verhältnis zu den Hausbewohnerinnen und -bewohnern lassen sich durchaus Unterschiede festmachen. Die Initiatorinnen und Initiatoren begegnen sowohl Ablehnung als auch Unterstützung, manchmal ist längere Überzeugungstätigkeit notwendig. Hussinger verliert dabei aus den Augen, dass nicht nur das Anbringen, sondern auch das Nicht-Anbringen eine Auseinandersetzung mit den Repressionen bedeutet, also auch als Erinnerungsprozess gewertet werden kann. Zudem zeichnet Hussinger mit ihrer Konzentration auf die Behinderung und Demontage ein wesentlich dunkleres Bild als die Stiftung "Poslednij Adres" selbst. 18 verhinderte Tafeln fallen angesichts über 800 realisierten eher weniger ins Gewicht. [1]
In einem abschließenden Kapitel (Kapitel 7) nimmt Hussinger die Anlehnung von "Poslednij Adres" an die Stolpersteine zum Anlass, um vergleichende Perspektiven aufzuzeigen. Mit wenigen Worten handelt sie die Priorisierung des Holocaust-Gedenkens in der europäischen Erinnerungskultur ab und greift noch einmal die bereits beschriebenen Unterschiede der russischen zur deutschen Vergangenheitsbewältigung auf. Einen transnationalen Ansatz der Erinnerung sieht sie darin, dass die russische Erinnerungskultur in Form von "Poslednij Adres" von europäischen Erfahrungen profitiert und sich das Projekt in postsozialistische Staaten wie Georgien, Moldawien, die Ukraine oder Tschechien und sogar bis nach Deutschland hin verbreitet hat und damit ein gemeinsames Erinnern an die stalinistischen Repressionen anstößt.
Hussinger versteht "Poslednij Adres" als eine für die russische Erinnerungskultur "neue und innovative Form des Gedenkens" (9). In der Tat verbinden sich verschiedene Formen des individuellen und öffentlichen Gedenkens in einem partizipatorischen Prozess. Auch wenn die Ursprünge der Aktion eng mit der Menschenrechtsorganisation Memorial verbunden sind, ist jede beliebige Person eingeladen, sich zu beteiligen und initiativ zu wirken. Memorial und die Stiftung "Poslednij Adres" stehen beratend und organisatorisch zur Seite. Explizites Anliegen ist es aber, einen aus dem Schoß der Gesellschaft hervorkommenden Erinnerungsprozess zu befördern.
An manchen Stellen stützt sich Hussinger auf ältere Literatur, deren Aussagen sie gleichwohl unreflektiert auf die 2020er Jahre überträgt. So behauptet sie etwa, dass das Gulag-Museum in Moskau "überwiegend von ausländischen Tourist:innen" (65) besucht wird. [2] Dies mag für 2009 - das Jahr, in dem der Aufsatz, den sie heranzieht, veröffentlicht wurde - und das alte Museum zutreffen. Diese Aussage auf das 2015 an neuem Standort, unter neuer Leitung eröffnete und einem völlig anderen Ausstellungskonzept folgende Staatliche Gulag Museum zu übertragen, ist aber schlichtweg falsch. Bereits 2016 besuchten beispielsweise über 5.000 russische Schulkinder das Museum. [3] Die Reportage "Kolyma" des YouTube-Stars Jurij Dud' aus dem Jahr 2019 brachte laut Aussage der stellvertretenden Museumsdirektorin massenweise junge russische Besucherinnen und Besucher in das Museum.
Auch lässt sich fragen, ob die eher unscheinbaren Plaketten wirklich die Geschichte der Repressionen "alltäglich" in Erinnerung bringen und eine "Änderung gegenwärtiger Lebenspraktiken" (38) bewirken. Die meisten Menschen werden eher unachtsam an ihnen vorbeigehen (sofern sie nicht durch das Spiel Pokémon Go darauf aufmerksam gemacht werden - eine Tatsache, die im Hinblick auf eine Demokratisierung des Gedenkens, die Hussinger in "Poslednij Adres" sieht, interessant wäre genauer zu verfolgen).
Letztendlich ist die vorliegende Darstellung eine Gefangene ihrer Zeit. Die Pandemie und dann die Ausweitung des Krieges in der Ukraine haben intensive Recherchen vor Ort offensichtlich verunmöglicht. Der Krieg, die Kriegspropaganda und die sich bereits seit 2021 immer mehr verschärfende Geschichtspolitik des Russischen Staates haben auch für "Poseldnij Adres" völlig neue Rahmenbedingungen gesetzt. Die Befürchtung, dass das Buch eine bereits längst überholte Zustandsbeschreibung der russischen Erinnerungskultur darstellt, wird allein durch die anhaltenden Aktivitäten der Initiative eingehegt. [4]
Anmerkungen:
[1] Die Stiftung dokumentiert auf ihrer Webseite http://www.poslednyadres.ru alle angebrachten und gerade geplanten Anbringungen ebenso wie das Entfernen von Tafeln [17.08.2023].
[2] Ähnlich verfährt Hussinger mit einer Aussage Irina Ščerbakovas aus dem Jahr 2010, die sie ohne Abstriche auf "heutzutage" (62) überträgt.
[3] Vgl. den Jahresbericht des Museums zu den pädagogischen Tätigkeiten, Moskau 2016, S. 84; http://gmig.ru/upload/iblock/251/2514deb2a51401e41232567ae7288392.pdf [17.08.2023].
[4] Im Zeitraum 12. Februar bis 11. Juni 2023 sind einundzwanzig Gedenktafeln angebracht worden, über 90 weitere sind für die nahe Zukunft geplant ( http://www.poslednyadres.ru/ [17.06.2023]).
Felicitas Fischer von Weikersthal