Rezension über:

Benedikt Neuwöhner: Britannia rules the Rhine. Die britische Rheinlandbesatzung 1918-1926 (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 119), Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2023, XII + 380 S., 3 Farb-, 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-79035-4, EUR 99,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Wolfgang Elz
Gönnheim
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Elz: Rezension von: Benedikt Neuwöhner: Britannia rules the Rhine. Die britische Rheinlandbesatzung 1918-1926, Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2023, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 9 [15.09.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/09/37826.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Benedikt Neuwöhner: Britannia rules the Rhine

Textgröße: A A A

Mit dem Waffenstillstand vom November 1918 verpflichtete sich Deutschland, seine Truppen umgehend aus Frankreich und Belgien abzuziehen und auf die rechte Rheinseite zurückzuführen. Alliierte Truppen rückten nach und besetzten die linksrheinischen deutschen Gebiete. Mit dem Versailler Vertrag und formal mit dessen Ratifizierung vom Januar 1920 wurde die betreffende Besatzungsherrschaft durch Franzosen, Belgier, Engländer und (anfangs noch) Amerikaner detailliert geregelt; dabei war diese Besetzung im Vertrag als Pfand für die vollständige Erfüllung der Vertragsbedingungen durch Deutschland, insbesondere die Zahlung der Reparationen, legitimiert. Nach fünf, zehn und fünfzehn Jahren sollten die drei Besatzungszonen, von Nord nach Süd, geräumt werden - vorausgesetzt, Deutschland erfüllte bis dahin den Versailler Vertrag. Den größten Anteil im Süden, nämlich die bayerische Pfalz, das linksrheinische Gebiet Hessen-Darmstadts und einen Teil der preußischen Rheinprovinz, besetzte Frankreich. Über dessen Besatzungspolitik, die 1930 vorzeitig endete, wurden einige Studien, Aufsätze und Sammelbände veröffentlicht, so dass man sich über die Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche, über die häufig recht rigiden französischen Besatzungsmethoden und die wenig verhüllte Unterstützung des kurz nach Weltkriegsende und erneut 1923 aufflammenden linksrheinischen Separatismus recht gut informieren kann. [1]

Großbritannien war eigentlich widerwillig in dieses Besatzungsgeschehen hineingeraten: London ließ sich auf diesen Schritt während der Beratungen über den Waffenstillstand und später auf der Pariser Friedenskonferenz ein, um die französische Idealvorstellung vom Rhein als Grenze zu torpedieren; diese hätte nämlich aus englischer Sicht bedeutet, eine vor 1914 befürchtete deutsche Hegemonie gegen die Gefahr einer künftigen französischen Vorherrschaft einzutauschen. Entsprechend klein fiel das britische Besatzungsgebiet aus: Es umfasste im Wesentlichen den Großraum Köln mit seinem Umland einschließlich eines rechtsrheinischen Brückenkopfs, wie er in jedem Hauptort der Besatzungszonen, neben Köln in Koblenz und Mainz, vorgesehen wurde. Bewohnt wurde dieses Gebiet von circa 1,1 Millionen Einwohnern, auf die nach Inkrafttreten des Versailler Vertrag circa 10.000 britische Berufssoldaten als Besatzer kamen. Die Franzosen schickten in ihre Zone etwa die zehnfache Zahl (was allerdings nicht bedeutet, dass dort etwa ein Soldat auf drei deutsche Bewohner gekommen wäre - die richtige Lösung der Berechnung führt zu 30 statt drei Deutschen) (60).

Die britische Besatzungspolitik ist bisher nur im Rahmen einer Studie ausführlicher untersucht worden. [2] So bleiben Benedikt Neuwöhner in seinem Buch, das aus einer Dissertation an der Universität Duisburg-Essen hervorgegangen ist, noch ausreichend viele Forschungsfragen, die er vornehmlich mit Hilfe britischer und deutscher Archivalien und Ego-Dokumenten zu beantworten versucht. Er konzentriert sich dabei auf die Ereignisse in der und um die Besatzung. Die in London konzipierte britische Deutschlandpolitik tritt weitestgehend in den Hintergrund. Seine leitende Frage ist, warum die Briten in ihrer Zone eine gewisse Stabilität und Ordnungsfunktion erreichten, obwohl die Besatzung sowohl nach dem Waffenstillstand als auch nach dem Versailler Vertrag von der deutschen Bevölkerung vor Ort nicht als legitim betrachtet wurde.

Eine erste Antwort liefert ihm eine angesichts der geringen Zahl der berücksichtigten Personen leicht gewagt so bezeichnete "Kollektivbiographie". Er skizziert auf beiden Seiten - der britischen wie der deutschen - die führenden Männer. Auf englischer Seite hatten während der Waffenstillstandszeit hohe Militärs das Sagen in der Zone. Mit dem Inkrafttreten des Friedensvertrags wurden sie durch eine englische Zivilverwaltung kontrolliert, wie es im Rheinlandabkommen festgelegt war, das zeitgleich mit dem Versailler Vertrag unterzeichnet wurde. Es zeigt sich aber schnell: Die dortigen Zivilbeamten waren zumeist auch vormalige höhere Militärs, so dass die höheren Funktionäre aus dem gleichen Personenkreis kamen. Dabei handelte es sich vorwiegend um Mitglieder der imperialen Funktionselite, die alle viktorianisch-edwardianisch sozialisiert und zumeist dem konservativen Milieu verhaftet waren. Ihnen standen auf deutscher Seite Verwaltungsbeamte und führende Politiker gegenüber, die ihre Sozialisation im Wilhelminismus erfahren hatten, aber eben zumeist in seiner rheinischen Ausprägung, etwa ein Konrad Adenauer als Oberbürgermeister von Köln. Radikale Kräfte fanden sich in den unruhigen Anfangsjahren der Weimarer Republik kaum unter ihnen, sondern zumeist der MSPD oder dem Zentrum nahestehende Männer.

Somit war eine gute Voraussetzung dafür gegeben, dass die britische Besatzungszone im Grunde nach der in etlichen englischen Kolonien praktizierten "indirect rule" organisiert wurde. Dies bedeutete zum einen, dass der jeweilige Ansprechpartner einer britischen Dienststelle sein jeweiliges Pendant auf deutscher Seite war, dem dann die Ausführung der vorgegebenen oder auch ausgehandelten Maßnahmen oblag. Das entsprach auch dem Rheinlandabkommen, wonach die zivile Verwaltung den deutschen Verwaltungsstellen überlassen bleiben sollte - außer in den Fällen, in denen die Belange der Besatzung tangiert waren. Dies hieß zum anderen jedoch nicht, dass die Briten die Kölner Zone als Kolonie betrachteten, auch wenn mancher Offizier, Soldat und Beamter sich mit seinem starken Pfund viele Vorteile auf dem inflationsgeplagten deutschen Markt kaufen konnte. Es bewirkte schließlich zum Dritten, dass es zu viel weniger direkten Kontakten und daraus erwachsenden Konflikten zwischen den Militärs und der deutschen Bevölkerung kam, als dies in der französischen Zone der Fall war. Wo allerdings die wirtschaftlichen Interessen Englands betroffen waren, etwa bei drohenden Streiks in Tarifkonflikten, griffen die Besatzer sehr wohl ein; sie organisierten ein britisches Streikgericht, dessen Anrufung obligatorisch war, wenn Belange der Besatzung oder Englands auf dem Spiel standen. Auf diesem Weg gelang es ihnen auch häufig, extreme Kräfte auszuschalten und mit den eher gemäßigten Gewerkschaften zusammenzuarbeiten.

Die Studie erbringt in ihren vielen Einzelbeobachtungen zahlreiche Belege dafür, warum die britische Zone im Kontrast zur französischen Zone häufig als "Insel der Seligen" apostrophiert wurde. Für einen noch ausstehenden systematischen Vergleich der britischen und französischen (sowie gegebenenfalls der belgischen und amerikanischen) Besatzung steht nun das Material bereit. Die Arbeit bleibt allerdings etwas zu lakonisch für das Jahr der Ruhrbesetzung, in dem diese Charakterisierung im Gegensatz zum französischen Einflussbereich besonders deutlich wurde, obwohl Neuwöhner in Bezug auf 1923 die "wohl schwerste Krise des britischen Sektors" konstatiert (338). Auch ansonsten behandelt der Verfasser die Zeit bis 1923 deutlich akribischer als den folgenden Zeitraum, ganz zu schweigen davon, dass die Jahre 1926 bis 1930, nachdem die Kölner Zone freigegeben worden war und die Engländer nach Wiesbaden und dessen Umgebung umgezogen waren, überhaupt nicht berücksichtigt werden. Das wäre aber interessant gewesen: Jetzt gab es nämlich neue Konflikte, weil die auch schon vor 1926 im Raum Köln drückende Belastung durch Gebäuderequirierungen und Einquartierungen nach der Unterzeichnung der Verträge von Locarno von deutscher Seite immer weniger Verständnis fand.


Anmerkungen:

[1] Vgl. u. a. für die Pfalz: Helmut Gembries: Verwaltung und Politik in der besetzten Pfalz zur Zeit der Weimarer Republik. Kaiserslautern 1992; für Rheinhessen: Martin Süß: Rheinhessen unter französischer Besatzung. Vom Waffenstillstand im November 1918 bis zum Ende der Separatistenunruhen im Februar 1924. Stuttgart 1988.

[2] David G. Williamson: The British in Germany, 1918-1930. The Reluctant Occupiers. New York 1991 [2. Aufl. unter leicht geändertem Titel: The British in Interwar Germany. The Reluctant Occupiers, 1918-30. London/New York 2017].

Wolfgang Elz