Peter Andersen / Nikolaus Henkel (Hgg.): Sebastian Brant (1457-1521). Europäisches Wissen in der Hand eines Intellektuellen der Frühen Neuzeit (= Kulturtopographie des alemannischen Raums; Bd. 13), Berlin: De Gruyter 2023, XIV + 446 S., 46 Farb-, 54 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-102325-0, EUR 99,95
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Der Band enthält die Vorträge, die auf der internationalen Tagung aus Anlass des 500. Todestages Sebastian Brants im Oktober 2021 Straßburg gehalten wurden. Der in Straßburg als Sohn eines Gastwirts geborene Jurist und Humanist studierte in Basel Jurisprudenz, lehrte als Professor Kirchenrecht (Kanonistik) und daneben auch die Artes-Fächer, brach Jahre später seine Universitätskarriere ab und verließ Basel [1], um nach Straßburg zurückzukehren, wo er seit 1501 als Stadtsyndikus amtierte und von Maximilian I. zum Beisitzer des Reichskammergerichts ernannt wurde. Brant stand während zweier Jahrzehnte an der Spitze der Verwaltung der Freien Reichsstadt. Die Konferenz konzentrierte sich weitgehend auf Brants Straßburger Tätigkeit und seine dort publizierten Werke, und so befassen sich von den insgesamt dreizehn Beiträgen nur drei mit Rezeption und Wirkung des "Narrenschiffs", einer in einem heute schwer lesbaren alemannischen Frühneuhochdeutsch zuerst 1494 in Basel gedruckten und mit Holzschnitten bebilderten Moralsatire in Versen.
Die Fokussierung auf das Basler "Narrenschiff" durch die traditionell germanistisch-philologisch geprägte Forschung, so Nikolaus Henkel in seiner Einleitung, habe zu einer Vernachlässigung wichtiger Tätigkeitsfelder des vielseitigen Autors geführt. Diese sollten durch die Straßburger Tagung in den Vordergrund gestellt werden, "um die wissens- und bildungsgeschichtliche 'Physiognomie' Brants als eines typischen Vertreters der intellektuellen Eliten um 1500 näher zu untersuchen und den von ihm ausgehenden Impulsen nachzugehen" (2). So unterrichtet der Straßburger Historiker Georges Bischoff ebenso umfassend wie detailliert über die Bedeutung der Reichsstadt ("Stadtrepublik") und ihre kulturellen und politischen Einrichtungen, in deren Gefüge sich Brants Amtstätigkeit im Dienste der städtischen Verwaltung, "als Akteur und Zeuge" (23), zu vollziehen hatte: als Zensor zur Abwehr von Störungen der öffentlichen Ordnung und Instanz einer "Moralisierung der Gesellschaft" wie generell als Organ der 'Rechtswache' zur Sicherung der öffentlichen Ordnung und ihrer Einrichtungen, immer vor dem Hintergrund der angstbesetzten "Frage nach der 'guten Regierung'" (23). Henkels eigener Beitrag behandelt Brants Rolle als Autor geistlicher Lieder (etwa in "Varia carmina", 1498) innerhalb der (vorreformatorischen) "Frömmigkeitskultur der intellektuellen Eliten um 1500".
Zu den instruktivsten Beiträgen gehört Joachim Knapes weit ausholende Prüfung der Frage nach Brants "konservativem Humanismus". Als Folgerung aus einer konzisen Kritik der älteren Forschung werden die Wirkungsfelder in der "Kultur- und Intellektualgeschichte" neu gesichtet, ehe Brants ästhetik- und poetikhistorische Position im Einzelnen charakterisiert wird, mit einem Schwerpunkt auf seiner kreativen Rolle inmitten der epochalen Umwälzungen in den Kommunikationsmedien seiner Zeit, des seit McLuhan so genannten Medienwechsels zur "Gutenberg Galaxis". Ergiebig zu medienanalytischen Fragen lesen sich auch die Beiträge von Jean Schillinger, Julia Frick und Joachim Hamm, die sich im Detail mit zentralen Aspekten der "Narrenschiff"-Rezeption in verschiedenen Übersetzungen und Adaptationen bis ins spätere 16. Jahrhundert beschäftigen, während die Kunsthistorikerin Catarina Zimmermann-Homeyer dem Illustrationskonzept in Brants Ausgabe des "Freydanck" (1508), eines moralsatirischen Textes aus dem 13. Jahrhundert, eine medienanalytisch ergiebige Studie widmet. Diese zählt auch deshalb zu den lesenswertesten Beiträgen, weil die Verfasserin sich weniger auf jene technoide Fachterminologie verlässt, die solche Arbeiten, auch wenn sie methodisch überzeugen, oft so schwer lesbar macht; von Zimmermann-Homeyer dürfte auch die eindrucksvolle Analyse des farbigen Titelholzschnitts in Brants Straßburger Edition (1502) von Vergils "Aeneis" stammen: Der Text ist mit "Picturale Konzepte der Narration" (VIIIf.) überschrieben und ohne Verfasserangabe dem Vorwort vorangestellt. Der Wert des Beitrags von Nicole Schwindt zur reichen Musikkultur in Straßburg, etwa in der Sodalitas litteraria, der auch Brant angehörte, liegt in der Rarität des Themas in der Brant-Forschung, und die Rechtshistoriker Hans-Jürgen Becker und Andreas Deutsch tragen mit eingehenden Untersuchungen von Brants Bedeutung für die Kanonistik sowie für das Zivilrecht wesentlich zu dem stets quellenbasierten Sachgehalt bei, der diesem Band seinen Wert sichern wird.
Für die biographische Quellenforschung besonders ergiebig sind schließlich die Berichte von Thomas Wilhelmi über Brants Zuständigkeit als Stadtschreiber für das 'Post- und Botenwesen', das heißt für die Rechte und Pflichten der "im Auftrag von Städten, Herrschaften, Kirchen und Kaufleuten" reisenden Boten (97), denen auch die Übermittlung von Postsendungen und Nachrichten oblag. Mit diesem Tätigkeitsfeld hängt dann auch die Entstehung eines Reiseführers oder Itinerars zusammen, die "Beschreibung etlicher gelegenheyt Teutsches lands", von Brant verfasst und 1539 posthum von Kaspar Hedio als Anhang zu dessen Straßburger Chronik publiziert, das "Itinerar eines Sesshaften", wie Wilhelmi das Werk treffend nennt. Denn der Humanist Brant ist, anders als andere humanistische Gelehrte, nie in Italien oder Frankreich, in Österreich oder gar in nördlichen oder östlichen Regionen gewesen und hat sich seit den Jahren als Schüler in Baden (und vielleicht in Schlettstadt) fast nur in Basel oder Straßburg aufgehalten. Zur Biographik im weiteren Sinne zählen auch die Ergebnisse, die Henkel und der Mitherausgeber Peter Andersen über die Geschichte des Epitaphs für Brant in der Straßburger Stiftskirche St. Thomas mitzuteilen haben, dessen vollständige Restaurierung erst 2022 fertiggestellt wurde, sowie die quellenkundliche Rekonstruktion der Geschichte des Wappens von Brant und seiner weiteren Familie (mit einem Mühlrad als zentralem Motiv) seit dem frühen 15. Jahrhundert durch Peter Andersen, der dafür bis ins 20. Jahrhundert hinein 43 Belege ausfindig gemacht und im Sinne einer Bestandsaufnahme für weitere Forschungen in allen Details beschrieben hat.
Die äußerst sachhaltigen und ertragreichen Forschungsbeiträge, die 100 vorzüglich reproduzierten Abbildungen, im Anhang das Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger und ein nützliches Namen- und Sachregister (es fehlt jedoch eine Zusammenstellung der Primärquellen und der wichtigsten Forschungsliteratur) - all das macht den Band unbedingt lesenswert. Kritisch anzumerken ist jedoch eine deutliche Schwäche konzeptioneller Art. Gemeint ist die Wahl der "intellektuellen Eliten" als Leitbegriff und dass Brant im Untertitel sogar zum "Intellektuellen" erklärt wird. Henkel, der die Kategorie in dem Band eigentlich als einziger mehrfach (aber nicht etwa systematisch) benutzt, grenzt sie im Eingang seines Beitrags (34) kurz von den Funktionseliten der akademischen Juristen einerseits sowie den weltlichen und geistlichen Machteliten andererseits ab und verweist im Übrigen auf seine Monographie, in deren Einleitung man in der Tat ausführliche Erläuterungen dieser Abgrenzung anhand vieler Beispiele findet [2] - aber eine Begründung für die Wahl gerade dieses für die Zeit um 1500 anachronistischen Begriffs (anstatt "gelehrt"/"Gelehrter" oder ähnliches) fehlt auch dort, und er bleibt denn auch analytisch folgenlos, weil er nicht als (wissens)soziologischer Terminus, sondern immer nur als Etikett zur Benennung eines wissensgeschichtlichen Feldes bei der Abgrenzung von benachbarten Feldern verwendet wird. Ist die Enthaltsamkeit von Begriffsreflexion in den Kulturwissenschaften schon so weit fortgeschritten, dass in einem Band wie diesem jede Begründung für die Wahl des Begriffs des "Intellektuellen" fehlen kann, dessen Semantik bekanntlich nicht weiter als bis zur Affäre Dreyfus am Ende des 19. Jahrhunderts zurückgeht, und dass schon die einfache Frage nach dessen semantischer Tauglichkeit überhaupt nicht mehr gestellt wird? Dafür spricht leider vieles, wenn man liest, dass selbst im neuesten Sammelband zum Thema (von 2023) der Autor des darin besten Beitrags, Frank Rexroth, sich allenfalls zu der Konzession herbeilässt, von einem "kontrollierten Anachronismus" zu reden, um sodann ausführlich vom "Intellektuellengestus" im 12. Jahrhundert zu handeln [3]. 2002 konnte der Romanist Hartmut Stenzel im Hinblick auf Gabriel Naudé und den libertinage érudit noch formulieren: "Aus Gründen [!], die aus den folgenden Ausführungen deutlich werden sollten, halte ich es nicht für sinnvoll, hier und im folgenden mit dem Begriff des Intellektuellen zu operieren, der meines Erachtens Konnotationen der Freiheit und Distanz zur politischen Macht transportiert, die für die Frühe Neuzeit anachronistisch wären" [4].
Anmerkungen:
[1] Vgl. Antje Niederberger: Sebastian Brant, das Reich und die Eidgenossen, in: Humanisten am Oberrhein. Neue Gelehrte im Dienst alter Herren, hg. von Sven Lemke und Markus Müller, Leinfelden-Echterdingen 2004, 189-208.
[2] Nikolaus Henkel: Sebastian Brant. Studien und Materialien zu einer Archäologie des Wissens um 1500, Berlin 2021, Einleitung: 15-82, hier: 24-39.
[3] Frank Rexroth: Unerwünschte Experten. Der Intellektuellengestus in der gelehrten Praxis des 12. Jahrhunderts, in: Intellektuelle. Karrieren und Krisen einer Figur vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. von Martin Kintzinger u. Wolfgang Eric Wagner, Basel 2023, 11-33. hier: 15. Die Wendung nach Nicole Loraux: Éloge de l'anachronisme en histoire, in: Le Genre Humain 27 (1993), 23-39.
[4] Hartmut Stenzel: Ein Gelehrter zwischen humanistischer Tradition, Politik und Öffentlichkeit: Gabriel Naudé und die Probleme des "libertinage érudit", in: Intellektuelle in der Frühen Neuzeit, hg. von Jutta Held, München 2002, 170-192, hier: 175, Fn. 13.
Herbert Jaumann