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Fabian Link: Demokratisierung nach Auschwitz. Eine Geschichte der westdeutschen Sozialwissenschaften in der Nachkriegszeit, Göttingen: Wallstein 2022, 638 S., ISBN 978-3-8353-5198-1, EUR 66,00
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Rezension von:
Wolfgang Knöbl
Hamburger Institut für Sozialforschung
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Wolfgang Knöbl: Rezension von: Fabian Link: Demokratisierung nach Auschwitz. Eine Geschichte der westdeutschen Sozialwissenschaften in der Nachkriegszeit, Göttingen: Wallstein 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 10 [15.10.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/10/37983.html


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Fabian Link: Demokratisierung nach Auschwitz

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Fabian Links Buch, das auf seiner 2018 eingereichten Habilitationsschrift basiert, reiht sich ein in eine mittlerweile nicht geringe Zahl von Studien, die in den letzten zehn bis zwanzig Jahren die weltweite Expansion der Sozialwissenschaften zur Mitte des 20. Jahrhunderts zum Thema gemacht haben. Nicht nur deutsche, sondern insbesondere auch US-amerikanische und französische Historiker und Historikerinnen und an der Disziplingeschichtsschreibung interessierte Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen nutzen mittlerweile die Möglichkeit des Archivzugangs bzw. die Verfügbarkeit von Nachlässen, um diese Phase einer enormen "Verwissenschaftlichung des Sozialen" (Lutz Raphael) en detail zu analysieren, wobei dieser Prozess auf unterschiedliche nationale Konstellationen traf und verschiedene Zeitlichkeiten zur Folge hatte.

Link legt seinen Fokus auf Westdeutschland. Seine Betrachtung erstreckt sich vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis hinein ins Jahr 1961, das er deshalb für so wichtig erachtet, weil hier mit dem sogenannten Positivismus-Streit eine Zäsur zu beobachten war, um die herum sich das wissenschaftliche Feld neu ausrichtete. Wie er gleich zu Beginn der Untersuchung ausführt, will er einen wissenschaftshistorischen Beitrag zur Geschichte der Sozialwissenschaften im frühen Kalten Krieg (22) liefern, wobei allerdings dieser Kalte Krieg in der Darstellung gerade keine allzu systematische Aufmerksamkeit erfährt. Link ist eher an den internen Konstellationen und Wandlungen des westdeutschen Wissenschaftsbetriebs interessiert; (welt-)politische Fragen und Probleme werden eher ausgeblendet - ganz im Gegensatz etwa zu nicht wenigen amerikanischen Studien der jüngsten Zeit, die etwa die zeitgleiche Entstehung der sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorie nachgezeichnet und ganz dezidiert als Reflex auf politische Konflikte und Anforderungen charakterisiert haben, die der Kalte Krieg mit sich gebracht hatte. [1] Und er entscheidet sich für einen weiteren Schritt, um die Thematik fassbar zu machen: Nicht das Gesamtfeld der westdeutschen Sozialwissenschaften interessiert ihn, sondern im Wesentlichen zwei dominante Figuren, die gemeinhin als politische Antipoden der Sozialwissenschaften der Wirtschaftswunderjahre angesehen werden - Helmut Schelsky und Max Horkheimer.

Links Konzentration auf diese beiden Intellektuellen und Wissenschaftsorganisatoren (wenn auch eine beeindruckend große Zahl befreundeter und konkurrierender Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen in die Darstellung mit einbezogen werden) hat Vor- und Nachteile zugleich. Sie erlaubt einerseits einen nachvollziehbaren Erzählfaden; andererseits hat sie aber den Nachtteil, dass den Antipoden jeweils eine enorme Prägekraft zugeschrieben wird, die diese möglicherweise gar nicht besaßen. Verstärkt wird dies dadurch, dass Link mit Ludwik Flecks Begriff des "Denkkollektivs" arbeitet und dabei eben jene Einheitlichkeit der von Horkheimer und Schelsky beeinflussten oder mit ihnen in Kontakt stehenden "Akteursgruppen" schon von vornherein unterstellt.

Zunächst ist darauf zu verweisen, dass es Link in den ersten Kapiteln seiner knapp 570 Textseiten umfassenden Untersuchung schafft (36-48), eine nützliche Kartographie der je unterschiedlichen und unterschiedlich einflussreichen Soziologiestandorte nach 1945 vorzulegen, in der solche Figuren wie Alfred Weber, Alfred von Martin und Leopold von Wiese ebenso ihren Platz finden, wie die von der philosophischen Anthropologie beeinflussten (politisch aber in durchaus unterschiedlichen Lagern stehenden) Helmuth Plessner, Arnold Gehlen oder Hans Freyer, in der René König in Köln ebenso eine Rolle spielen wie Otto Stammer in Berlin, in der alte Nationalsozialisten wie Andreas Predöhl oder Gerhard Wurzbacher sich neu positionieren und auf gerade zurückgekehrte antifaschistische Emigranten treffen.

In eben jenem Feld beleuchtet nun Link seine Hauptprotagonisten Schelsky und Horkheimer, wobei ihm dies mal besser, mal weniger gut gelingt. Am wenigsten vermag die Kennzeichnung von Horkheimers Denkstil zu überzeugen; Links Ausführungen zu den philosophischen und politischen Hintergründen von Horkheimer und seinen Mitarbeitern im Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) am Ende der Weimarer Republik und während der überwiegend in den USA verbrachten Exilzeit erbringen wenig Neues, das nicht in der Sekundärliteratur schon aufgearbeitet worden wäre.

Stärke gewinnt die Darstellung freilich dann, wenn sie sich um eine mikropolitische Akzentsetzung bemüht, bei der Link zeigen kann, wie sehr auch Horkheimer und Adorno am neugegründeten IfS mit NS-belasteten Sozialforschern zusammenarbeiteten, wie sehr sie wissenschaftliche und im städtischen Kontext Frankfurts durchaus nicht immer angenehme außerwissenschaftliche Kontakte knüpfen mussten, um das Institut zu etablieren. Stark und bemerkenswert ist auch Links Beharren darauf, dass Horkheimer und die Seinen sich, im Gegensatz zum "Denkkollektiv" um Schelsky, höchst intensiv um Methodendebatten bemüht hatten, wobei die Praxis des Gruppenexperiments einer genauen Analyse unterzogen wird.

Deutlich besser ausgeleuchtet wird die Biographie und das intellektuelle Umfeld Schelskys in Leipzig, dessen Verstrickung in den Nationalsozialismus und dessen etwa im Vergleich zu Arnold Gehlen sehr viel größere Wendigkeit innerhalb der bundesrepublikanischen Strukturen, die es ihm erlaubte, sich schnell im demokratischen Spektrum der frühen Bundesrepublik zu positionieren und sogar intellektuellen Einfluss auf gewerkschaftliche Debatten zu nehmen. Bemerkenswert sind auch die Hinweise Links, wonach Schelsky auch deshalb so zügig den US-amerikanischen Strukturfunktionalismus übernommen und geradezu aufgesogen hatte, weil dieser es ihm erlaubte, seine eigene NS-Vergangenheit zu bewältigen. Dieses methodische Vorgehen ermöglichte ihm dann später auch, Aspekte der US-amerikanischen Soziologie in den deutschsprachigen Sprachraum auf eine derart erfolgreiche Art einzuführen, wie dies nur wenigen Nicht-Emigranten gelang. Wichtig sind schließlich auch Links Hinweise darauf, wie Schelsky es trotz fehlender empirischer Kenntnisse und diesbezüglicher praktischer Erfahrung erreichte, mit publikumswirksamen Büchern unterschiedliche Subdisziplinen der Soziologie zu prägen, von der Sozialstrukturanalyse über die Familien- und Jugendsoziologie bis hin zur Soziologie der Sexualität.

Link macht dabei klar, dass - und dies ist eine der theoretischen Hauptthesen des Buches - die Zusammenarbeit zwischen den "Denkkollektiven" um Schelsky und Horkheimer bis in die Mitte der 1950er Jahre gut funktionierte, dass es innerhalb der gesamten Disziplin einen gewissen Konsens mit dem Willen zur Stillstellung möglicher (politischer) Konflikte gab, was sich etwa paradigmatisch an dem durchaus engen persönlichen Verhältnis von Gehlen und Adorno zeigte. Dieser apolitische Konsens, der auch dadurch zum Ausdruck kam, dass Horkheimer und sein Institut die Bundeswehr mit Blick auf ihre Offiziersauswahl berieten, dass umgekehrt Schelsky bereit war, auch linke Sozialwissenschaftler zu fördern und Kontakte zu DDR-Kollegen zu suchen, begann sich aber Link zufolge ab 1957 allmählich aufzulösen. Die einflussreichsten Vertreter des Faches (zumeist natürlich Männer) wurden streitbarer, alte und neue Konflikte brachen auf, nicht zuletzt solche über die Deutung der NS-Vergangenheit, was dann zu klaren Frontstellungen führte, die im sogenannten Positivismus-Streit auf wissenschaftstheoretischem Gebiet nur allzu sichtbar wurden.

Man kann dieser Zäsursetzung Links zustimmen; kritisch lässt sich aber auch fragen, ob dieser Positivismus-Streit wirklich so bedeutend war, bildeten sich doch schon kurz darauf etwa im Werk von Jürgen Habermas ganz neue Positionen heraus, die mit der von der Kritischen Theorie bezogenen Konzeption der frühen 1960er Jahre kaum mehr etwas zu tun hatten. Und etwas bösartiger formuliert ließe sich vielleicht sogar sagen: Der Positivismus-Streit erscheint aus heutiger Sicht nur deshalb so bedeutsam, weil Generationen von irgendwie linken Privatdozenten und Privatdozentinnen und Professoren und Professorinnen ohne Bezug auf empirische Forschung Semester für Semester bis in die 1980er Jahre hinein ihre Syllabi bequem mit Seminaren zu jenem angeblich weltbewegenden Positivismus-Streit aufhübschen konnten.

Diese kritische Bemerkung zu Links vorgenommener Periodisierung soll freilich nicht verdecken, dass seine Studie trotz einiger Schwächen insgesamt als verdienstvoll zu bezeichnen ist; der große Rechercheaufwand hat sich für die Leser und Leserinnen gelohnt, profitieren sie doch allemal von den von Link dargebotenen, oft überraschenden Einsichten, von der Präsentation von Zusammenhängen, die so andernorts nicht zu finden, und von Hinweisen auf Autoren und Autorinnen, die längst vergessen sind.


Anmerkung:

[1] Vgl. etwa David Ekbladh: The Great American Mission. Modernization and the Construction of an American World Order, Oxford 2010; Jamie Cohen-Cole: The Open Mind. Cold War Politics and the Sciences of Human Nature, Chicago 2014; Jamie Cohen-Cole: The Open Mind. Cold War Politics and the Sciences of Human Nature. Chicago / London 2014; Daniel Bessner: Democracy in Exile. Hans Speier and the Rise of the Defense Intellectual, Ithaca 2018.

Wolfgang Knöbl