Rezension über:

Una Bergmane: Politics of Uncertainty. The United States, the Baltic Question, and the Collapse of the Soviet Union (= Oxford Studies in International History), 2023, XI + 241 S., ISBN 978-0-19-757834-6, GBP 29,99
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Rezension von:
Lukas Baake
Berlin
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Empfohlene Zitierweise:
Lukas Baake: Rezension von: Una Bergmane: Politics of Uncertainty. The United States, the Baltic Question, and the Collapse of the Soviet Union, 2023, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 11 [15.11.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/11/38788.html


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Una Bergmane: Politics of Uncertainty

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Noch bevor die Sowjetunion im Dezember 1991 offiziell als aufgelöst galt, waren mit Lettland, Litauen und Estland bereits einige Monate zuvor drei der sowjetischen Republiken als unabhängige Staaten anerkannt worden. Diese Sonderstellung der baltischen Republiken innerhalb des vielschichtigen Prozesses des sowjetischen Zerfalls und des ausgehenden Kalten Krieges stellt Una Bergmane in den Mittelpunkt ihrer Monografie und verfolgt dabei das Ziel, lokale und internationale Dynamiken, sozial- und politikgeschichtliche Ansätze miteinander zu verschränken: "It narrates the Estonian, Latvian, and Lithuanian push for independence as a regional endeavor embedded in the larger dynamics of Perestroika, the end of the Cold War, and the demise of the Soviet Union." (178) Durch diesen Ansatz gelingt es der Autorin, die Fluidität der baltischen Zivilgesellschaft ebenso überzeugend verständlich zu machen wie die changierende Haltung Washingtons gegenüber den baltischen Bestrebungen. Dabei reflektiert die beeindruckend breite Quellenbasis die zahlreichen Akteure in Washington, Moskau sowie den europäischen und baltischen Hauptstädten. Bergmanes Arbeit stellt somit eine wichtige Ergänzung zur bestehenden Forschung dar, welche die internationale Dimension des sowjetischen Verfalls mit Blick auf das Dreiecksverhältnis zwischen zentralen westlichen Staaten, der sowjetischen Führung und Staaten innerhalb des sowjetischen Einflussbereichs analysiert.

Ihre Geschichte der baltischen Unabhängigkeit entfaltet Bergmane über fünf Kapitel, die einer sich stetig verdichtenden chronologischen Struktur unterliegen. Das erste Kapitel behandelt den Ursprung der baltischen Frage, den die Autorin auf die Annexion der baltischen Republiken durch die Sowjetunion 1940 zurückführt. Auch wenn die baltischen Republiken faktisch in die Sowjetunion integriert wurden, wurde diese Annexion von den westlichen Staaten de lege nicht anerkannt. Diese bis zur baltischen Unabhängigkeit bestehende Nicht-Anerkennungspolitik bestimmt Bergmane, zusammen mit dem Einfluss baltischer Diaspora-Organisationen auf den amerikanischen Kongress, als zentralen strukturellen Faktor für ihre weitere Interpretation, da diese die Perzeption beziehungsweise Politik der westlichen Staaten gegenüber den baltischen Unabhängigkeitsbestrebungen maßgeblich beeinflusst hätten.

Die nachfolgenden Kapitel stellen die wichtigsten Etappen auf dem Weg zur baltischen Unabhängigkeit im internationalen Kontext und mit Blick auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen vor. So wird beispielsweise im dritten Kapitel aufgezeigt, wie die Transformationen in Mittel- und Osteuropa 1989 an den Grenzen der Sowjetunion zum Erliegen kamen und die baltischen Aktivitäten sich zunächst auf Fragen der historischen Aufarbeitung und kollektiven Erinnerung richteten. Die baltischen Abgeordneten nutzten die durch die Perestroika entstandenen Freiräume geschickt, um im neu gegründeten Kongress der Volksdeputierten die Anerkennung und Aufarbeitung des geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Pakts zu fordern. Zugleich charakterisiert Bergmane die Haltung der USA sowie anderer westlicher Staaten gegenüber den baltischen Bestrebungen und den Veränderungen im sowjetischen Einflussbereich als eine Mischung aus "prudence, skepticism, preference for controlled change, fear of a Soviet backlash" (70).

Diese Haltung verschärfte sich gegenüber den baltischen Staaten zu einem Dilemma: Einerseits erhoben die baltischen Staaten auf Grund der westlichen Nicht-Anerkennungspolitik der sowjetischen Annexion einen berechtigten Anspruch auf die Anerkennung ihrer Souveränität, andererseits hatten die westlichen Staaten ein Interesse an der Kooperation mit Gorbatschow und an Stabilität in der Sowjetunion. Die erste Krise in Form der litauischen Unabhängigkeitserklärung im März 1990 ist Gegenstand des dritten Kapitels, in dem Bergmane den zentralen Faktor der Unsicherheit für die amerikanischen Entscheidungsprozesse hervorhebt. Auch wenn die Krise durch eine Rücknahme der litauischen Unabhängigkeitserklärung zunächst bewältigt werden konnte, versuchten die baltischen Vertreter von nun an, verstärkte internationale Sichtbarkeit zu gewinnen. Im vierten Kapitel analysiert Bergmane subtil diese Versuche, da sie die zwischenstaatliche Anerkennung nicht allein als formalen Akt, sondern als komplexes Phänomen begreift, das von politischen und normativen Vorstellungen geprägt war. In diesem Kontext versteht Bergmane die baltischen Bemühungen um größere internationale Sichtbarkeit als dezidierten Versuch, die eigene Souveränität zu bestätigen: "communication with foreign countries carried particular significance for the Baltic governments: it was an affirmation of sovereignty." (114) Moskau konnte zwar durch die Ausweisung der baltischen Vertreter bei der KSZE-Gipfelkonferenz in Paris im November 1990 die Oberhand gewinnen, doch dies änderte sich nach den blutigen Interventionen sowjetischer Truppen in Litauen und Lettland im Frühjahr 1991. Interner Druck durch die Zivilgesellschaft und den immer populärer werdenden Boris Jelzin in Verbindung mit den Reaktionen des Westens nötigten Gorbatschow dazu, die sowjetischen Truppen aus den baltischen Republiken abzuziehen.

Das fünfte und letzte Kapitel zeigt auf, wie der wachsende Souveränitäts- und Eigenständigkeitsdrang der bisherigen Sowjetrepubliken innerhalb des sowjetischen Machtgefüges sowohl die Position der baltischen Republiken begünstigte als auch die USA dazu veranlasste, die Priorisierung ihrer Beziehungen mit Gorbatschow anzupassen. Als Höhe- und Schlusspunkt von Bergmanes Narrativ fungiert dabei der erfolglose Putschversuch gegen Gorbatschow im August 1991, in dessen Nachgang die baltischen Unabhängigkeitserklärungen von den Mitgliedern der Europäischen Gemeinschaft und den USA anerkannt wurden. Die Anerkennung der baltischen Staaten interpretiert Bergmane dabei überzeugend im Kontext etablierter Wahrnehmungsmuster: "the final decision to embrace Baltic sovereignty was embedded in a long-established perception that the Baltic republics were a special case in the Soviet context." (167) Die anschließende Einordnung der baltischen Unabhängigkeit in die sowjetische Desintegration insgesamt fällt dagegen überraschend knapp aus und wurde beispielsweise in Vladislav Zuboks jüngstem Buch überzeugender behandelt [1].

Trotz vereinzelter Schwachstellen und bisweilen bestehenden Ungleichgewichten zwischen quellengestützter Narration und theoretischer Reflektion stellt Bergmanes Werk eine längst überfällige Auseinandersetzung mit der baltischen Unabhängigkeit im Kontext der internationalen Verschiebungen der Wendejahre 1989 bis 1991 dar. Die Darstellung besticht nicht nur durch ihre Quellendichte und den gelungenen Rückbezug auf die bestehende Literatur, sondern überzeugt auch durch die elegante theoretische Fundierung des historischen Narrativs.


Anmerkung:

[1] Vladislav M. Zubok: Collapse. The Fall of the Soviet Union, New Haven 2021.

Lukas Baake