Claudia Deglau / Patrick Reinard (Hgg.): Aus dem Tempel und dem ewigen Genuß des Geistes verstoßen? Karl Marx und sein Einfluss auf die Altertums- und Geschichtswissenschaften (= Philippika. Altertumswissenschaftliche Abhandlungen; 126), Wiesbaden: Harrassowitz 2020, 450 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-11098-3, EUR 124,00
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Claudia Deglau: Der Althistoriker Franz Hampl zwischen Nationalsozialismus und Demokratie. Kontinuität und Wandel im Fach Alte Geschichte, Wiesbaden: Harrassowitz 2017
Karl Marx zählt gewiss zu den bedeutenden Gesellschaftstheoretikern des 19. Jahrhunderts. Aber er wäre heute Gegenstand von Spezialuntersuchungen, wenn seine Lehren nicht für die Arbeiterbewegung als Marxismus fundamental geworden wären. Aber auch da war sein Stern angesichts der von Eduard Bernstein eingeleiteten Revisionismusdebatte am Verblassen. Zur Supernova wurde er erst seit der Oktoberrevolution, nun weiterentwickelt in der Form des Marxismus-Leninismus (-Stalinismus). Der von Claudia Deglau und Patrick Reinard herausgegebene Band soll den Einfluss von Marx auf das Bild von der Antike untersuchen, da dies ein "seit vielen Jahrzehnten [...] vernachlässigtes Thema" sei (11).
Ein erstes Kapitel über Trier von Lena Haase bringt leider nichts über die Schulbildung von Marx hinsichtlich des Altertums. Der im Anhang abgedruckte Abituraufsatz über Augustus belegt ein unkritisches Bild, einschließlich der kühnen Behauptung, dass Tacitus über ihn stets ehrfürchtig und bewundernd, ja liebevoll gesprochen habe (418).
Die nächsten Beiträge untersuchen die zentralen Themen der "Antike als vorkapitalistische Gesellschaft" (Helmuth Schneider) und "Klassenbegriff und Klassentheorie" (Armin Eich). Beide sind bewährte Kenner der antiken Wirtschaftsgeschichte. Dabei versucht Schneider die Äußerungen von Marx zu einem Gesamtbild zusammenzufügen: "In den 'Grundrissen' [1] liegt im Ansatz ein in sich schlüssiges Modell der antiken Wirtschaft vor, das im Kern als eine funktionalistische Theorie eines komplexen sozioökomischen Systems aufgefasst werden kann." (52). Auffallend sei, dass hier, anders als im 'Kommunistischen Manifest', der Klassenkampf kaum erscheine. Nicht er, "sondern die Entwicklung der Produktivkräfte bewirkt die Auflösung der alten Produktions- und Eigentumsverhältnisse" (52). En passant erwähnt Schneider Kritiker, wendet aber ein, "dass Mommsen und Max Weber ganz ähnliche Ansichten zur frühen römischen Gesellschaft wie Marx vertreten haben" (53f.). Das ist noch kein Beweis für deren fortdauernde Aktualität. Niemand liest ihn, weil er manche Wesenszüge der Wirtschaft richtig erfasst hat. Historisch bedeutsam waren seine Thesen zur Interaktion von Wirtschaft und Gesellschaft, also die zum Klassenkampf.
Diesem widmet sich Armin Eich. Er legt dar: "Die Lehre von den einander ablösenden Klassenformationen ist vor allem mit Blick auf die dramatischen Umwälzungen in Marxens Gegenwart und jüngerer Vergangenheit formuliert worden", zugleich aber als eine Theorie für die gesamte Geschichte (63). Weil Marx sich nie systematisch zu den Verhältnissen des Altertums geäussert hat, greift Eich auf die 'Grundrisse' zurück (64ff.). Wichtig ist das Fazit, dass "in den im engeren Sinn wissenschaftlichen Schriften und Manuskripten ausdrücklich nicht angenommen wird, dass die antiken Sklaven jemals für ihre gemeinsame Befreiung gestritten haben" (70).
Hinsichtlich der Rezeptionsgeschichte beginnt Eich sogleich mit der extremen Form der Klassenkampftheorie, Stalins "fünf Grundtypen der Produktion", wozu er bemerkt: "Das Schema war dem Bedürfnis geschuldet, aus Marxens Texten leicht repetierbaren Schulstoff zu gewinnen, der jedoch der Komplexität und dem Interpretationsbedarf der Originaltexte nicht gerecht wurde" (72). Der Begriff 'Schulstoff' wirkt verharmlosend.
Für die westliche Forschung stellt Eich fest, dass sie "ganz überwiegend ohne Rückgriff auf die marxistische Klassentheorie" auskomme. Er behandelt aber einige Fälle, in denen es "eine offenere, produktive Diskussion" gegeben habe (73), etwa Charlotte Welskopf über 'Soziale Gruppen- und Typenbegriffe' (1974) oder das 'Stände-Schichten-Modell' von Geza Alföldy. Lässt sich aber die fortdauernde Bedeutung der 'Klassentheorie' mit der "Erkenntnis" begründen, "dass die materielle Basis jeglicher kulturellen, politischen oder gesellschaftlichen Erscheinung erst erarbeitet werden muss, bevor diese sich historisch materialisieren kann; dass weiterhin die Lasten dieses Arbeitsprozesses ungleich verteilt zu sein und dass die unterschiedlich belasteten Gruppen gewöhnlich typische Klassenmerkmale auszuprägen pfleg(t)en; sodann, dass die ungleiche Verteilung der Arbeitsbelastung nicht durch gütliche Übereinkunft, sondern durch Zwang erfolgt(e)" (83)? Zumindest für die westliche Welt ist diese 'Erkenntnis' sehr diskutabel.
Seiner Gewohnheit entsprechend, Vorworte ernst zu nehmen, widmet sich Wilfried Nippel dem Vorwort von 'Zur Kritik der politischen Ökonomie. Heft 1' (1859). Er zeigt die Beiläufigkeit auf, mit der Marx den Gang der Weltgeschichte nach Stadien der Produktionsverhältnisse und ihrer Ablösung und Höherentwicklung durch soziale Revolutionen skizziert hat (88-90). Dann beleuchtet er die Karriere der von Marx eingeführten 'asiatischen Produktionsweise', die um 1930 wiederentdeckt (93-98), gerade in ihrer Unklarheit seit den 1960er Jahren dazu diente, das starre Schema Stalins aufzulockern (100-103).
Unter dem Titel 'Karl Marx und die griechische Antike' behandelt Patrick Reinard die Dissertation als den "Anfang eines prometheisch-demiurgischen Ideals, das für Marx durch die Beschäftigung mit Epikur entstanden ist" (117). Marxens Auffassung der griechischen Ökonomie habe der Oikos-Ökonomie Karl Büchers entsprochen. Das vorangestellte Marxzitat verdient eine Betrachtung: "Die Griechen werden ewig unsere Lehrer bleiben". Natürlich entspricht dies dem Geist Wilhelm von Humboldts (108 Anm. 7), die Spannung aber zu einer materialistischen Geschichtsauffassung von Basis und Überbau ist offensichtlich. Marx hat das Problem hinsichtlich der von ihm bewunderten griechischen Kunst selbst angesprochen: "Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin zu verstehen, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten." Er erklärt sich das mit der Freude des Mannes an der Naivität des Kindes. [2] Aber das ist eine Ausflucht, um sein klassizistisches Erbe zu bewahren.
Mario Keßler stellt den Althistoriker und späteren Historiker der Weimarer Republik, Arthur Rosenberg, vor. Für beides ist er rühmlich bekannt, muss aber ein agitatorisches Gelegenheitswerk wie 'Demokratie und Klassenkampf im Altertum' (1921) dem Vergessen entrissen werden?
Robert von Pöhlmann wird von Kai Ruffing als Pionier einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Altertums gewürdigt. Deutlich wird an seiner Betonung der verderblichen Rolle der Masse seit frühgriechischer Zeit, dass er von zeitgenössischen Ängsten getrieben war. Ihn trieb die 'soziale Frage' um, zum Marxismus hielt er Abstand und kritisierte Staatsutopien von Platon bis zu den Zukunftsperspektiven eines Marx (211-214).
Deglau behandelt: "Friedrich Vittinghoffs Auseinandersetzung mit den 'Klassikern' des Marxismus und der XI. Internationale Historikerkongress in Stockholm (1960)". Vittinghoff sprach über 'Die Bedeutung der Sklaven für den Übergang von der Antike ins abendländische Mittelalter'. Er ging mit den marxistischen Klassikern achtungsvoll um, hielt sie aber für zeitbedingt (238-245). Bei der sowjetischen Forschung sah er Anlass zur Hoffnung: "Sie hat zweifellos im letzten Jahrzehnt durch eine gründlichere Untersuchung der Quellen in manchen Fragen gelernt, einen [...] marxistisch-leninistischen Standort mehr mit den Quellenaussagen in Einklang zu bringen und in sehr beschränktem Umfang die Theorie notfalls nach den Fakten umzudeuten" (247).
Wie sich in der Sowjetunion eine neue empirische Sicht der Dinge durchgesetzt hat, verdiente eine Untersuchung. Dabei könnte von einer Betrachtung der Bibliotheca Classica Orientalis ausgegangen werden, die seit 1956 in Resümees russische Fachliteratur vermittelte. 1969 stellte diese nützliche Zeitschrift ohne jede Erklärung ihr Erscheinen ein. In der letzten Nummer stellt E. M. Štaerman fest, "daß sich der Übergang der einzelnen Gesellschaften von der Urgemeinschaft zur Klassengesellschaft und zum Staat auf verschiedenen Wegen vollzogen haben könne [...] In diesem Fall wäre der Weg der fortgeschrittensten Poleis Griechenlands, Kleinasiens und auch Roms keine obligatorische Etappe der Sklavenhalterformation, sondern nur eine (und zwar sehr seltene) Variante einer Gesellschaft, die sich unter ganz spezifischen Bedingungen aus der Urgemeinschaft heraus entwickelt hat". [3] Derart subversive Lehren aus dem Mutterland des Sozialismus wollte man in der DDR offenbar nicht länger verbreiten.
An den Spartacus-Monographien von Rigobert Günther und von Armin Jähne illustriert Eugen Sonnenberg, wie sehr führende Althistoriker der DDR dem Marxismus bis zuletzt verhaftet geblieben sind.
Zu Walter Benjamin führt Marian Nebelin aus: "Benjamins Auseinandersetzung mit Marx [...] erweist sich also im Kern zugleich als oberflächlich und eigensinnig. [...] Für Benjamin war Marx ein Steinbruch, aus dem er entnahm, was ihn interessierte" (321).
Nach diesen Feststellungen könnte man die Akte schließen, aber bei Benjamin ist immer Bemerkenswertes zu finden. So kritisiert er von seinem messianischen Denken her das Verhältnis von Basis und Überbau bei Karl Marx, weil er dem Überbau seinen eigenen Wert zukommen lassen will (334ff.).
Ein besonderer Fall ist Oswald Spengler (David Engels). Spenglers eigenes Geschichtsbild war von dem Marxens um Welten entfernt, aber von seinen Voraussetzungen her hat er einige Probleme klar erkannt. Vor allem kritisiert er, dass Marx sich auf die Arbeiter konzentriert habe, während das Problem der Führung nicht in sein Blickfeld geraten sei (380-381). In der Tat löst das Diktum von Marx: "Jedem nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" nicht das Problem, wie die Bedürfnisse einer entwickelten Gesellschaft effizient zu erfüllen sind.
Der Band bietet lesenswerte Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte des Marxismus, aber kaum Wegweisendes für weitere Forschung. Das schließt nicht aus, dass die Lektüre der Schriften von Marx auch heute noch Anregungen bietet.
Anmerkungen:
[1] Gemeint sind die 1857 und 1858 verfassten, zuerst 1939 veröffentlichten 'Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie' (39).
[2] Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, 30-31.
[3] E. M. Štaerman: Die Antike in den modernen westlichen geschichtsphilosophischen Theorien, VDI 3 (101), 1967, 3-24 - BCO 14, 1969, 354-358.
Jürgen von Ungern-Sternberg