Renée Wagener: Emanzipation und Antisemitismus. Die jüdische Minderheit in Luxemburg vom 19. bis zum beginnenden 21. Jahrhundert (= Studien zum Antisemitismus in Europa; Bd. 16), Berlin: Metropol 2022, 725 S., 6 Farb-, 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-86331-655-6, EUR 36,00
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1866 erhielt der Religionsphilosoph und Rabbiner Samuel Hirsch einen Ruf als Nachfolger David Einhorns an die Gemeinde "Keneseth Israel" in Philadelphia. Wie Einhorn stammte auch Hirsch aus Deutschland und wie er muss er zu den einflussreichsten Rabbinern des Reformjudentums im 19. Jahrhundert gezählt werden. Doch trotz seiner Bedeutung nicht nur für die jüdische Geschichte Nordamerikas ist er heute eine fast vergessene Figur. Das liegt auch daran, dass Hirsch mehr als zwanzig Jahre lang Großrabbiner des Großherzogtums Luxemburg war. [1]
Bislang ist die luxemburgisch-jüdische Geschichte noch kaum erforscht. Seit den 1970er Jahren hat der Journalist Paul Cerf als "Einzelkämpfer" (608) zwar mehrere Studien vorgelegt, die sich größtenteils mit dem Holocaust und der Nachkriegszeit beschäftigen. [2] Aber erst 2011 ist eine umfassende Länderstudie von Laurent Moyses erschienen, die die jüdische Geschichte Luxemburgs von den Anfängen im 13. Jahrhundert bis in die Gegenwart rekonstruiert. [3] Mit dem hier anzuzeigenden Buch Emanzipation und Antisemitismus der Historikerin Renée Wagener liegt nun die erste umfangreiche wissenschaftliche Darstellung auf Deutsch vor, die sich auf die Zeit von der Französischen Revolution bis in die jüngste Gegenwart erstreckt und über 700 Seiten stark ist. Schon aus Gründen des Umfangs können hier nur einige zentrale Aspekte des Werkes diskutiert werden.
Wageners Buch, das auf einer Dissertation an der Fernuniversität Hagen beruht, betrachtet die luxemburgisch-jüdische Geschichte aus der Perspektive einer Dynamik von Inklusion und Exklusion (60-72). Sie wählt damit einen eher klassischen Zugriff, der aus der Geschichtsschreibung über die deutsch-jüdische oder französisch-jüdische Geschichte bereits bestens bekannt ist und methodisch daher wenig neues bietet. Auch die analytischen Schlüsselbegriffe Staat, Gesellschaft und jüdische Minderheit (41-44) sind eher konventionell gewählt und lassen leider eine Auseinandersetzung mit der begriffsgeschichtlichen Problematik der Gegenüberstellung von Mehrheit und Minderheit vermissen. [4]
Die eigentliche Stärke des Buches liegt dort, wo sich die Eigenheiten der luxemburgischen Geschichte mit der der "jüdischen Minderheit" verschränken. Schon Moyses hatte in seiner Darstellung auf die Parallelität zwischen der stets prekären Existenz des luxemburgischen Gemeinwesens und der der luxemburgischen Juden hingewiesen. Unter wechselnder Herrschaft der verschiedenen europäischen Mächte stehend und seit dem 17. Jahrhundert durch drei Teilungen immer weiter in seinem Territorium beschnitten, erreichte Luxemburg erst 1839 die staatliche Unabhängigkeit (allerdings bis 1890 vom niederländischen König regiert, der in Personalunion Großherzog von Luxemburg war). Zu diesem Zeitpunkt konnte das Großherzogtum auf eine nicht einmal fünf Jahrzehnte zurückreichende neuzeitliche jüdische Geschichte zurückblicken; genau wie der luxemburgische Staat war also auch das luxemburgische Judentum vergleichsweise jung. An diese Erkenntnis anknüpfend gelingt es Wagener, die Geschichte Luxemburgs erstmals aus einer jüdischen Perspektive zu erzählen. [5]
Dabei stehen zwei Hauptthesen im Vordergrund: Zum einen argumentiert die Autorin, dass die erst seit Ende des 18. Jahrhunderts eingewanderten Juden in Luxemburg noch sehr lange als "Immigranten" wahrgenommen worden seien (107). Dabei bleibt offen, ob nicht die zeitgleich in Deutschland, Frankreich oder auch Belgien betriebene Exotisierung der Juden - ungeachtet der länger zurückreichenden jüdischen Existenz in diesen Ländern - letztlich zu einem ähnlichen Resultat geführt hat: dass die Juden nicht nur als religiös und kulturell anders, sondern häufig auch als fremd wahrgenommen wurden. [6] Wageners zweite These lautet, dass die vor allem katholisch geprägte Judenfeindschaft sich mit dem Aufkommen eines spezifisch luxemburgischen Nationalismus in einen modernen Antisemitismus verwandelte. Die Parallelen zur Geschichte des Antisemitismus in Frankreich sind nicht zu übersehen (siehe besonders die Ausführungen über die Rezeption der Dreyfus-Affäre, 97-101). Insgesamt ist der Zusammenhang von Nationalismus und Antisemitismus bereits bestens erforscht und Wagener schließt hier mit Bezug auf Luxemburg eine noch bestehende Lücke. [7]
Eine grundsätzliche Herausforderung der Studie wird von der Autorin selbst eingeräumt: Zwar ist es ihr Ansatz, "die jüdische Minderheit nicht auf eine erleidende Opfergemeinschaft zu reduzieren, sondern als handelnden Akteur darzustellen" (40), doch dieser kollidiere mit der prekären Archivlage. So gebe es "kaum Dokumente zum jüdischen Selbstverständnis im 19. Jahrhundert" (39). Um diesen Mangel zumindest für das 20. Jahrhundert auszugleichen, wurden in einem sogenannten "Exkurs" (618-640) Ergebnisse aus Interviews mit insgesamt neun Zeitzeug:innen in die Darstellung integriert, von denen sieben vor dem Zweiten Weltkrieg geboren sind. Das ist zwar ein wichtiges Korrektiv, dennoch orientiert sich die Darstellung sehr stark an Exklusions- und Diskriminierungsprozessen, was nicht nur mit der Quellenlage, sondern eben auch mit dem methodischen Ansatz zu tun hat. Allerdings wäre es verfehlt, das Buch nur als eine Geschichte der jüdischen Ausgrenzung zu lesen, denn der jüdischen Religion, Kultur und Politik wird ebenfalls gebührend Raum gegeben, besonders in migrationsgeschichtlicher Perspektive. Folglich wird die jüdische Gemeinschaft Luxemburgs auch nicht als homogenes Kollektiv dargestellt, sondern in ihrer Vielfältigkeit gewürdigt.
Insgesamt legt Renée Wagener mit ihrem Buch eine gewichtige Länderstudie vor, die die weitere Forschung nicht nur zur luxemburgischen Geschichte, sondern auch zu transnationalen Aspekten der jüdischen Geschichte bereichern wird. Auf breiter Quellenbasis und methodisch sorgfältig schließt die Autorin bestehende Forschungslücken und bringt damit neue Perspektiven in die vergleichende Nationalismus- und Antisemitismusforschung ein. Im Feld der jüdischen Geschichte Luxemburgs wird das Buch zweifelsohne in Zukunft als Standardwerk gelten.
Anmerkungen:
[1] Siehe dazu Judith Frishman / Thorsten Fuchshuber (eds.): Samuel Hirsch: Philosopher of Religion, Advocate of Emancipation and Radical Reformer, Berlin / Boston 2022. Die Forderung, endlich auch Hirschs Schaffen in Luxemburg wahrzunehmen, wurde bereits vor über zwanzig Jahren aufgestellt. Vgl. Ken Koltun-Fromm: Public Religion in Samson Raphael Hirsch and Samuel Hirsch's Interpretation of Religious Symbolism, in: Journal of Jewish Thought and Philosophy 9 (2000), 70.
[2] Siehe etwa Paul Cerf: Longtemps j'aurai mémoire. Documents et témoignages sur les Juifs du Grand-Duché de Luxembourg durant la seconde guerre mondiale, Luxemburg 1974.
[3] Laurent Moyse: Du rejet à l'intégration - Histoire des Juifs du Luxembourg des origines à nos jours, Luxemburg 2011. Renée Wagener ordnet Moyses Studie kritisch in die "Kategorie identitätsstiftender Veröffentlichungen" (25) ein.
[4] Siehe dazu jüngst Till van Rahden: Vielheit. Jüdische Geschichte und die Ambivalenzen des Universalismus, Hamburg 2022, 21-46.
[5] Systematisch hat dies kürzlich Shulamit Volkov in Bezug auf die deutsche Geschichte unternommen. Siehe Shulamit Volkov: Deutschland aus jüdischer Sicht. Eine andere Geschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2022.
[6] Zu Belgien siehe etwa Yasmina Zian: Un antisémitisme ordinaire. Représentations judéophobes et pratiques policières (1880-1930), Brüssel 2023.
[7] Klaus Holz: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001.
Philipp Lenhard