Omer Bartov: Tales from the Borderlands. Making and Unmaking the Galician Past, New Haven / London: Yale University Press 2022, x + 376 S., ISBN 978-0-300-25996-4, USD 30,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Omer Bartov, Professor für Europäische Geschichte und Deutsche Studien an der Brown University, widmet sich in seinem neuen Buch ein weiteres Mal [1], wie er schreibt, der Geschichte "of making and unmaking the past of a place that no longer exists" (9). Dieser Ort beziehungsweise diese Orte liegen in dem Teil Osteuropas, den einer seiner Kollegen durchaus nicht unwidersprochen als "Bloodlands" bezeichnet hat. [2] Dort wurden (und werden gegenwärtig wieder!) die menschliche Vorstellungskraft übersteigende Verbrechen begangen. Anders als der Untertitel seines neuen Buches suggeriert, hat Bartov nicht nur das Kronland Galizien in der habsburgischen Zeit im Blick, sondern einen weitaus längeren Zeitraum: Er beginnt seine Erzählung mit den an den jüdischen Bewohnern der Region begangenen Pogromen während des Chmel'nyc'kyj-Aufstandes in der Mitte des 17. Jahrhunderts, welcher weder der erste noch der letzte Massenmord an dieser Bevölkerung in der Region sein sollte. Der Autor spannt einen weit über das eigentliche Galizien hinausgehenden Bogen, nach Norden nach Vilnius, Berlin und St. Petersburg etwa, und auch nach Süden bis an das Schwarze Meer. Im Zentrum steht aber die heute zur Ukraine gehörende Stadt Buczacz, die vor Kriegsbeginn 2022 gut 12000 Einwohner zählte und vor dem Zweiten Weltkrieg, wie viele andere Gebiete der Region, einen hohen jüdischen Bevölkerungsanteil besessen hatte.
Zwar wendet sich Bartov im vorliegenden Werk erneut der Auslöschung des osteuropäischen Judentums zu - insbesondere am Beispiel von Buczacz. Doch im Vergleich zu seinen bisherigen Forschungen ist die Perspektive eine modifizierte, eine persönlichere, ohne die des professionellen Historikers ganz hinter sich zu lassen. Er sieht sein Buch als Beitrag zu einer first-person narration beziehungsweise history; eine Richtung in den historischen Erzählungen, welche die Vergangenheit mittels einer mikrohistorischen Perspektive betrachten will. Diese Rekonstruktion (oder doch eher Konstruktion?) der Vergangenheit liest sich über weite Strecken sehr gut, manchmal aber sehr wortreich. Lesend trifft man viele bekannte, überwiegend männliche Autoren, die zum literarischen Galizien-Mythos beigetragen haben. Dazu zählen unter anderem Shai Agnon, der 1966 (gemeinsam mit Nelly Sachs) als bislang einziger auf Hebräisch Schreibender den Nobelpreis für Literatur erhalten hat, Karl Emil Franzos oder Ivan Franko. Dass dieser Galizien-Mythos höchst ambivalent ist, zeigt der Verfasser eindrücklich unter anderem am Beispiel der divergenten Einschreibungen Bohdan Chmel'nyc'kyjs und Stepan Banderas, die in der allerdings stark segmentierten ukrainischen Erinnerungskultur in einigen Diskursgruppen höchstes Ansehen genießen (Letzterer zumindest bei vielen Westukrainer:innen), in der jüdischen und der polnischen hingegen aber entschieden nicht. Die Erinnerungen an Pogrome oder die an Juden und Polen begangenen Verbrechen in Lemberg oder Wolhynien sind im kollektiven historischen Gedächtnis präsent und haben über sehr lange Zeit auch das Verhältnis zwischen Polen und Ukrainern belastet.
Die first-person history will Geschichte mittels der "Geschichten" und den sehr persönlich gefärbten Erzählungen von Zeitzeugen rekonstruieren. Bartov hat sich diesen Ansatz zu eigen gemacht, im letzten Viertel seines Buches zudem sehr weitgehend: Er lässt seine Leserschaft an den persönlichen Erinnerungen seiner Mutter teilhaben, mit der er in den 1970er Jahren ausführliche Interviews führte, die er aufgezeichnet hat und die er umfangreich wörtlich wiedergibt. Einige private Fotografien zeigen das Leben der Familie des Autors im ostgalizischen Buczacz zwischen orthodoxem Judentum, jüdischer Politisierung, Assimilierung und der Migration in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina in den 1930er Jahren. Die Mutter des Autors verbrachte ihr erstes Lebensjahrzehnt in dem damals zu Polen gehörenden Buczacz als Tochter zionistischer Eltern. Ein Teil der Familie ist somit der Shoa entkommen, wenn man diese in erster Linie als die physische Vernichtung des europäischen Judentums begreift. Aber das würde zu kurz greifen, denn das viel beschworene Bild einer untergegangenen Welt, einer spezifischen Kultur lässt sich damit nur unvollständig fassen. Eine nachvollziehbare Melancholie gibt somit den Grundton dieser auch autobiografischen Narration, die eher persönlich als geschichtswissenschaftlich angelegt ist und gerade auf dieser Ebene emotional sehr stark bewegt.
Anmerkungen:
[1] Vgl. zuletzt Omer Bartov: Erased. Vanishing Traces of Jewish Galicia in Present-Day Ukraine, Princeton 2007; Omer Bartov: Anatomy of a Genocide. The Life and Death of a Town Called Buczacz, New York 2018.
[2] Timothy Snyder: Bloodlands. Europe between Hitler And Stalin, New York 2010.
Kerstin S. Jobst