Stefan Lehr (Hg.): Unter Beobachtung. Vertriebenenverbände im Blick der sozialistischen Sicherheitsdienste (= Journal für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa; 2022, Bd. 3), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, 244 S., ISBN 978-3-11-079522-6, EUR 49,95
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Im Sommer 1980 gingen Millionen Polen gegen drastisch gestiegene Lebensmittelpreise auf die Straße. Was als loser Protest gegen die schlechte Versorgungslage im Land begann, rüttelte schon bald an den Grundfesten der kommunistischen Herrschaft. Vergeblich versuchte das Regime, den Aktivitäten der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność ein Ende zu bereiten, indem es auf die bewährte Mischung aus Propaganda und Repression setzte. Doch selbst der Rückgriff auf antideutsche Ressentiments zeigte diesmal keine Erfolge. Die über Radio und Fernsehen verbreitete Warnung, man lenke durch die Kundgebungen "vor allem Wasser auf die Mühlen der Revanchisten in Bonn", verhallte weithin ungehört.
Für die Regierenden blieb das Schreckgespenst des "westdeutschen Revanchismus" bis zum Umbruch der Jahre 1989/90 dennoch ein wichtiges Mittel der Herrschaftslegitimierung. Es besaß insofern einen wahren Kern, als die "Revanchisten" (odwetowcy) - ein Begriff, den die polnischen Medien im Besonderen auf die Vertriebenenverbände bezogen - tatsächlich für eine Revision der Oder-Neiße-Linie und ein Deutschland in den Grenzen von 1937 eintraten. Namentlich die Landsmannschaft Schlesien (LS) und die Landsmannschaft der Oberschlesier (LdO) galten der polnischen Öffentlichkeit als Inkarnation des Bösen. Selten ließen Journalisten und Regierungsvertreter denn auch eine Gelegenheit verstreichen, um die Vertriebenenverbände als machtvolle, mitgliederstarke, bestens vernetzte und nur auf den richtigen Moment zur Verwirklichung ihrer sinistren Ziele wartenden Organisationen zu porträtieren. Doch wie sah es hinter den Kulissen aus? Wie bewertete der Sicherheitsdienst (Służba Bezpieczeństwa, SB) den Einfluss der Landsmannschaften? Wie blickten die Inlandsgeheimdienste in anderen osteuropäischen Staaten auf die Vertriebenenverbände? Welche Schritte unternahmen sie, um eine Zusammenarbeit der westdeutschen Organisationen mit den im Land verbliebenen Deutschen zu unterbinden? Und auf welche Weise versuchten die Sicherheitsdienste, Informanten in den Reihen der Landsmannschaften zu installieren?
Auf diese Fragen gibt der vorliegende Zeitschriftenband Antworten. Hervorgegangen ist er aus einer im September 2021 ausgerichteten Online-Tagung des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (Oldenburg). In geografischer Hinsicht nimmt er sich sowohl der DDR, Polens und der Tschechoslowakei als auch Ungarns, Rumäniens und Jugoslawiens an. Dabei geht es dem Herausgeber Stefan Lehr zum einen um die Analyse von Perzeption und Observation der Vertriebenenverbände durch die Sicherheitsbehörden. Zum anderen will er das Wechselspiel zwischen den Landsmannschaften und den deutschen Minderheiten während des Kalten Krieges ergründen. Die Autoren der vierzehn Beiträge tun dies aus unterschiedlichen Perspektiven. Ihr Zugang ist oftmals ein biografiegeschichtlicher. Doch finden sich ebenso allgemeiner gehaltene institutionengeschichtliche Ansätze, wobei es sich in beiden Fällen sowohl um Auszüge aus aktuellen Arbeiten, darunter mehrere Dissertationsprojekte, als auch um Variationen älterer Untersuchungen handelt.
Ein bislang vernachlässigtes Forschungsfeld tut sich dem Leser damit grundsätzlich also nicht auf. Gerade mit der Beschattung der Landsmannschaften und ihrer Führungsfiguren durch die Sicherheitsorgane der Volksrepublik Polen haben sich verschiedene Publikationen befasst. [1] Darüber hinaus lassen sich inhaltliche Überschneidungen mit Artikeln über die Verfolgung "prodeutscher Einstellungen" unter der "autochthonen Bevölkerung" in Oberschlesien erkennen. Wenn Sebastian Rosenbaum also feststellt, der polnische Inlandsgeheimdienst habe die beiden schlesischen Landsmannschaften als große Gefahr für die innere Sicherheit Polens eingestuft und diesen in den 1970er Jahren unterstellt, eine deutsche Minderheit "schaffen" zu wollen (52), läuft dies im Wesentlichen auf eine kundige Paraphrase des Bekannten hinaus. Dass der SB "an zwei Fronten" (44), sowohl in Polen als auch in der Bundesrepublik, die Aktivitäten der Vertriebenenverbände bekämpfte, ist ebenfalls geläufig. Über die erfolglosen Versuche des Sicherheitsdienstes, kompromittierendes Material über den LdO-Vorsitzenden Czaja zu sammeln, hat Rosenbaum im Übrigen andernorts bereits berichtet. [2]
Freilich verspricht der Band keineswegs, nur Neues bereitzuhalten. Auf den Forschungsstand geht die klar und kenntnisreich geschriebene Einleitung (1-17) dann auch ausführlich ein. Gekonnt umreißt Lehr darin ferner das untersuchte Themenfeld: Die Größe der einzelnen deutschen "Volksgruppen" und deren Verhältnis zur jeweiligen Mehrheitsbevölkerung kommen hierbei ebenso zur Sprache wie der Organisationsgrad der Landsmannschaften und die Zahl der nach dem Krieg in Ost- und Ostmitteleuropa verbliebenen Deutschen. Wie sehr das Interesse der Sicherheitsdienste davon und von etwaigen Gebietsansprüchen abhing, wird ebenfalls benannt.
All dies überrascht nur selten. Gleichwohl bietet der Band mehr als eine lesenswerte Zusammenschau. Stellenweise wartet er sogar mit Pionierleistungen auf. Gerade die Forschung zu den mitgliederstarken sudetendeutschen Gruppierungen erhält wertvolle Impulse, zumal es über die Beobachtung der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL) durch den Prager Sicherheitsapparat bis dato kurioserweise keine Literatur gegeben hat. Dieser Lücke nimmt sich nun Lehr an. Anders als in seiner in Vorbereitung befindlichen Monografie blickt der Historiker hier vorrangig auf die Jahre bis zur Neuen Ostpolitik, als die Staatssicherheit (Státní bezpečnost, StB) aufhörte, die SL als größere Gefahr einzustufen. Freilich hätten die Geheimdienstler in dem durch den Witiko-Bund repräsentierten nationalen Flügel der Landsmannschaft bis dahin eine eminente Bedrohung erkannt, die sie durch die Veröffentlichung kompromittierenden Materials über die NS-Vergangenheit einzelner Funktionäre hätten bekämpfen wollen. In diesem Licht sei auch die Rekrutierung mehrerer Informanten zu sehen, deren unterschiedliche, sogar nationale Indifferenz einschließende Beweggründe für die Zusammenarbeit mit den Behörden anhand dreier Fallbeispiele beleuchtet werden. Daran schließt sich thematisch der Aufsatz von Niklas Zimmermann an, dessen Augenmerk der Observierung der katholischen Ackermann-Gemeinde gilt, die Kontakte in die Tschechoslowakei pflegte. Michal Schvarc wiederum erläutert am Beispiel des vormaligen karpatendeutschen "Volksgruppenführers" Franz Karmasin, wie die StB ehemalige NS-Funktionäre mittels Einschüchterung als Informanten zu gewinnen suchte.
Damit werden gleich mehrere weiße Flecken getilgt. Einziger Malus bleibt das, sieht man von der Einleitung ab, weitgehende Fehlen vergleichender Darstellungen. Den Wert dieser kompakten und eingängigen Übersichtsdarstellung schmälert dies allerdings nur unwesentlich. Wieder einmal ist dem noch jungen Journal ein überzeugender Wurf gelungen.
Anmerkungen:
[1] Insbesondere: Joanna Hytrek-Hryciuk: Kryptonim "Ośrodek". Służba Bezpieczeństwa wobec Ziomkostwa Ślązaków (1962-1972) [Deckname "Zentrum". Der Sicherheitsdienst und die Landsmannschaft der Schlesier (1962-1972)], in: Grzegorz Strauchold / Jarosław Syrnyk (Hrsg.): Internacjonalizm czy ...? Działania organów bezpieczeństwa państw komunistycznych wobec mniejszości narodowych (1944-1989), Warszawa / Wrocław 2011, 200-219. Vergleiche im rezensierten Werk, S. 11, Anm. 49.
[2] Sebastian Rosenbaum: Operation "Poseł". Herbert Czaja im Visier des polnischen Sicherheitsdienstes, in: Confinium 3 (2008), 173-196.
Matthias E. Cichon