Klaus Schroeder: Fremdsichten von Bundeswehr und Nationaler Volksarmee im Vergleich 1955/56-1989 (= Deutsch-deutsche Militärgeschichte; Bd. 5), Berlin: Ch. Links Verlag 2022, 556 S., ISBN 978-3-96289-179-4, EUR 50,00
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Da sich Bundeswehr und Nationale Volksarmee (NVA) an der Nahtstelle des Kalten Kriegs gegenüberstanden und sich in scharfer ideologischer Abgrenzung zueinander definierten, verspricht ein Vergleich der jeweiligen Fremd- und Feindbilder erheblichen Erkenntnisgewinn. Klaus Schroeder hat sich dieses zentrale Thema der deutschen Nachkriegsmilitärgeschichte in seiner Dissertation vorgenommen und die mehr als drei gemeinsamen Jahrzehnte von Bundeswehr und NVA untersucht. Damit eröffnet er die Chance, die Konjunkturen der Blockkonfrontation näher zu betrachten und zu fragen, ob und wenn wie stark sich diese im Bild von der jeweils anderen deutschen Armee zeigten. Überzeugend nutzt der Autor nicht die vordergründige Kategorie des Feindbildes, sondern die des Fremdbildes und schafft sich damit größeren Spielraum für differenzierende Interpretationen. Deutlich stellt Schroeder heraus, dass es sich dabei um eine Konstruktion handelte, die eingebunden war in die offizielle Sichtweise eines "public transcript" - und zwar auf beiden Seiten des geteilten Deutschlands (6). Um zu erfahren, was die Soldaten über ihr ideologisches Gegenüber denken sollten, nutzt er militärische Vorschriften, Lehrbücher und insbesondere Zeitschriften, die sich primär, aber nicht ausschließlich an Grundwehrdienstleistende richteten. Das ist eine überzeugende Vergleichsebene, die allerdings noch tiefer hätte ausgeschöpft werden können, gerade wenn es um Fragen der Fremdbestimmung der Autoren oder um Selbst- oder Fremdzensur geht. Die vielleicht noch spannendere Vergleichsebene der audiovisuellen Medien, der bildgestützten Werbung, der Filmproduktionen für militärinterne Präsentationen oder für das Fernsehen hätte zumindest diskutiert werden sollen, um das Potenzial der Fragestellung deutlich zu machen. Sehr knapp verweist Schröder darauf, dass illustrierte Zeitschriften wie die bundeswehrinterne "Information für die Truppe" oder "Wissen und Kämpfen" der NVA ihre Botschaften immer über Bild und Text vermittelten (25). Da Bilder häufig suggestiv wirken und eine inhaltliche Synchronisierung von Illustration und Text keinesfalls vorausgesetzt werden darf, bleibt ein wichtiger Aspekt der Fremdsicht leider im Dunkeln. Der Verzicht auf Oral History-Untersuchungen ist allein mit Blick auf die zeitliche Spanne des Untersuchungszeitraums naheliegend. Dafür nutzt der Autor die Ergebnisse der qualitativen Meinungsforschung in beiden deutschen Streitkräften, um die tatsächliche Wirkung der konstruierten Fremdbilder am Ende seiner Studie zu untersuchen.
Aus dem methodischen Setting leitet sich eine Struktur ab, in der die Herkunft und Produktion von Fremdsichten und die militärische Ausbildung mit dem Schwerpunkt der Vermittlung politischer Inhalte den Rahmen bilden. Überzeugend zeigt Schroeder, wie stark die Fremdbilder in Ost und West von politischen Vorgaben geprägt waren, wenngleich der Antikommunismus im Westen vielschichtig und dynamisch war, während der Marxismus-Leninismus strikten Vorgaben der Politischen Hauptverwaltung der NVA und damit der SED folgte. Mit der "Sozialistischen Soldatenpersönlichkeit" im Osten und dem "Staatsbürger in Uniform" im Westen konstruierten beide Seiten ein Idealbild, das sich an der Realität messen lassen musste. Einleuchtend sind die von Schroeder angebotenen, diametral entgegengesetzten Bezugsrichtungen der politischen Einflussnahme. In der NVA wurde das Konstrukt des Imperialismus primär anwendungsorientiert vermittelt, um die Kampfkraft zu stärken. In der Bundeswehr sollten die Soldaten bei ihren alltäglichen Problemen abgeholt werden, um dabei die freiheitlich-demokratische Lebensweise zu begreifen. Der Bundeswehr kam dabei zugute, dass Theorie und erlebte Realität in der Bundesrepublik relativ nah beieinander lagen - ganz im Gegensatz zur DDR. Der in der Studie mehrfach verwendete Begriff der Parlamentsarmee ist allerdings irreführend, weil er erst mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr und dem begrifflich intendierten Parlamentsvorbehalt zu einem bestimmenden Narrativ wurde.
Im Hauptteil werden die Fremdsichten von NVA und Bundeswehr anhand von fünf Kategorien untersucht: der ideologischen Ebene von Kommunismus und Imperialismus, dem Vorwurf der Indoktrination, der vermeintlichen Repression nach innen, dem kritischen Blick auf die jeweiligen Bündnispartner Sowjetunion und USA und schließlich der Bedrohungsperzeption anhand von Waffensystemen und Doktrinen. Wenngleich jeder Abschnitt mit einem Vergleich schließt, ist die Gliederung der Unterkapitel nicht immer stringent. Das ist schade, denn im Detail sind die Befunde ausgesprochen erhellend. So passte der teilweise rassistisch grundierte Antikommunismus einiger westdeutscher Autoren so gar nicht zum Bild einer freiheitlich-demokratisch verfassten Grundordnung. Spannend ist auch Schroeders Befund, dass die jeweilige Gegenseite zwar als gefährlich, aber nicht als existenziell bedrohlich dargestellt wurde, "um Resignation zu vermeiden" (433). Im Vergleich zeigt sich eine asymmetrische Konstruktion des Gegenübers. Die NVA fixierte sich auf die Bundeswehr und konstruierte ein stark ideologisch grundiertes Feindbild, das teilweise sogar extreme Züge annehmen konnte. Die Bundeswehr begnügte sich mit einem moderateren Fremdbild der NVA, zeichnete allerdings die Bedrohung durch die Sowjetarmee in grellen Farben.
Im letzten Abschnitt, der nach meiner Einschätzung etwas zu knapp geraten ist, kommt Schröder unter Nutzung von internen Meinungsbefragungen zum Ergebnis, die Vermittlung von Fremdbildern müsse "in großen Teilen als Misserfolgsgeschichte in Bundeswehr und NVA" gesehen werden (473). Weder das offizielle Feindbild der NVA noch die antikommunistischen Stereotype konnten im gewünschten Maß verfangen, erst recht am Ende des Kalten Kriegs. Diesem Urteil kann man sich anschließen, aber der Begründungszusammenhang ist nicht immer schlüssig. So zielten die Meinungsbefragungen in beiden deutschen Armeen weniger auf eine Überprüfung des "Erfolges der militärischen Ausbildung" (435), sondern vielmehr auf die politischen Überzeugungen und die soziale Kohärenz. Die Erhebungen der NVA richteten sich durch den Rahmen der Befragung und die oft suggestiven Fragen in einem erheblichen Maße auf eine positive Bestätigung der Parteiarbeit. Ein Abgleich mit den Lagebildern des Ministeriums für Staatssicherheit hätte dabei geholfen, das Bild zu schärfen. Mit Blick auf eine der letzten Meinungsbefragungen in der NVA im Juni 1990 muss man kritisch fragen, ob die Unterschiede im Feindbild zwischen Mannschaftssoldaten und hohen Offizieren dadurch zu erklären sind, "dass die militärische Spitze der NVA hier in deutlich stärkerem Maße Zugriff auf ungefilterte, also unverfälschte Aufklärungsergebnisse hatte" (441). Ohne valide Daten und differenziertere Einordnung fehlt dieser wie auch manch anderer interessanten These die Basis. Neben der Berücksichtigung der angesprochenen methodischen Fragen hätte der Studie ein straffendes Lektorat gutgetan, denn zahlreiche Rückgriffe und Wiederholungen hemmen den Lesefluss.
Gleichwohl liefert Klaus Schroeder mit seiner Dissertation über Fremdbilder in NVA und Bundeswehr einen weiteren gewichtigen Baustein zur vergleichenden deutsch-deutschen Militärgeschichte, der in Zukunft Berücksichtigung finden sollte.
Matthias Rogg