Christian Packheiser: Heimaturlaub. Soldaten zwischen Front, Familie und NS-Regime (= Das Private im Nationalsozialismus; Bd. 1), Göttingen: Wallstein 2020, 533 S., ISBN 978-3-8353-3675-9, EUR 36,00
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"An Urlaub darfst Du, solange dieser Feldzug dauert, nicht denken." schrieb der Münsteraner Kaufmann Albert Neuhaus im August 1941 von der Ostfront an seine Frau Agnes. Wenige Tage später beschwor er jedoch die Aussicht auf ein baldiges Wiedersehen - als privates Idyll und Gegenbild zum heftigen Artilleriefeuer, dem seine Einheit ausgesetzt war: "Ich freue mich ja unbändig darauf, später wieder von meiner kleinen Königin verwöhnt zu werden. Weißt Du, wenn Vater wieder sein Nickerchen macht mit einer guten Zigarre und so. Kind, das werden ja wieder Zeiten!" [1]
Fronturlaub als Verheißung und Herrschaftstechnik, als Spiegel von Geschlechterrollen, als Ort der Inszenierung von Volksgemeinschaft und als Raum von Privatheit - das genau ist das Thema der wichtigen Studie des Münchner Historikers Christian Packheiser. Fronturlaub war im Zweiten Weltkrieg ein Massenphänomen. Wie Packheiser zeigt, gewährte die Wehrmachtsführung ihren Soldaten häufiger und länger Urlaub als es die Reichswehr im Ersten Weltkrieg getan hatte. Grund war das Bestreben, sich der Loyalität der Soldaten und ihrer Familien zu versichern und zugleich die Verbindung zwischen Front und Heimat zu festigen. So befanden sich im Sommer 1942 allein zwischen 270.00 und 465.000 Soldaten von der Ostfront zur Erholung in der Heimat (109). Die Praxis der Urlaubsgewährung hielt bis Kriegsende an, auch wenn die Begründungen sich veränderten und die Wartezeiten länger wurden. Im Mittel mussten Soldaten während des gesamten Krieges nicht länger als 12 Monate auf einen in der Regel dreiwöchigen Erholungsurlaub warten, wenngleich es auch Frontkämpfer gab, die bis zu zweieinhalb Jahre ununterbrochen eingesetzt wurden.
Packheiser geht es darum "den Fronturlaub in all seinen relevanten Facetten" zu analysieren - aus Sicht der Soldaten, ihrer Angehörigen und der Machthaber (13). Hierzu fragt er nicht nur, wie Soldaten und ihre Familien die gemeinsame Zeit gestalteten, sondern auch, ob der Fronturlaub mittelfristig Diktatur und Kriegsgesellschaft stabilisierte. Auch interessiert ihn, wie das Regime den Fronturlaub strukturierte, verwaltete und inszenierte und inwiefern sich aus dem staatlichen Zugriff auf das Private und aus individuellen Gestaltungswünschen Konflikte ergaben.
Entstanden ist die Monographie, die eine Überarbeitung von Packheisers preisgekrönter Dissertation aus dem Jahr 2018 darstellt, im Forschungsprojekt "Das Private im Nationalsozialismus" des Instituts für Zeitgeschichte. [2] Privatheit, so die Erkenntnis, wurde im Nationalsozialismus weder aufgehoben noch verabsolutiert. Sie musste aktiv hergestellt und bewahrt werden. Gestaltungsspielräume genossen dabei vor allem die rassenpolitisch erwünschten Mitglieder der Volksgemeinschaft, doch auch Verfolgte konnten sich selbst unter widrigsten Bedingungen Reste von Privatheit erkämpfen beziehungsweise bewahren.
Dass auch der emotional hoch aufgeladene Fronturlaub der Indienstnahme und Behauptung des Privaten diente, zeigt die Studie anschaulich. Packheiser stützt sich dazu auf eine beeindruckende Bandbreite von Quellen: Er hat Wehrmachtsakten und Regierungsdokumente, dazu Akten der Partei-Kanzlei und der SS, Soldbücher und Gerichtsakten, Feldpostbriefe und Tagebücher, Filme und Zeitungen (insbesondere sogenannte "Graben- bzw. Frontzeitungen") aus insgesamt 21 Archiven im In- und Ausland untersucht.
Die Studie ist plausibel aufgebaut, ausgehend von den Grundlagen der Urlaubsgewährung und -organisation (Teil I) nimmt sie Instrumentalisierungsversuche durch das Regime in den Blick (II) und schließlich den Nahbereich der Familien selbst (III). Bereits anhand dieser groben Gliederung wird deutlich, wieviel dieses Thema zum Verständnis der Integration - aber auch Inszenierung und Instrumentalisierung - der Volksgemeinschaft und zur Vermessung des Verhältnisses von staatlicher Indienstnahme und privaten Rückzugsräumen beizutragen hat. Teil I vergleicht die Urlaubsvergabepraxis im Nationalsozialismus mit derjenigen im Ersten Weltkrieg und bezieht in einem Teilkapitel auch die Gewährung von Urlaub durch die Alliierten als lohnende Vergleichsperspektive mit ein. Besonders die quantitative Auswertung von 400 Soldbüchern von Wehrmachtssoldaten ist ein Alleinstellungsmerkmal. So wird anhand des Samples deutlich, dass die im rückwärtigen Heeresgebiet eingesetzten Soldaten schneller Urlaub erhielten (nach vier bis fünf Monaten), als die Frontkämpfer (etwa sieben Monate), letztere dafür aber für längere Zeit bei ihren Familien bleiben durften. Auch der Familienstand machte eine Ausnahme: Junggesellen mussten durchschnittlich einen Monat länger auf Urlaub warten, auch bot die Wehrmacht ihnen Erholungsmöglichkeiten nahe der Front an, um Transportwege zu minimieren (103f). Teil II zeigt die immensen Anstrengungen, die Regime und Wehrmachtsführung unternahmen, um Verhalten und Erlebnisse der Fronturlauber zu lenken, "wehrkraftzersetzende" Aussagen der Heimkehrer ebenso zu unterbinden wie negative Beeinflussung derselben. Während das Regime den Fronturlaub propagandistisch inszenierte, veranschaulichen Bilder aus privaten Alben die "Tiefenwirkung der soldatischen Sozialisation" auch im Privaten (232). Gerichtsakten erweisen dagegen den Eigensinn, mit dem sich Urlauber ein Recht auf Privatheit nahmen, wenn sie beispielsweise ihren Urlaub eigenmächtig ausdehnten, um ihre Frauen und Kinder bei Krankheit oder nach Bombentreffern zu unterstützen (329f). Doch auch die geschlechtsspezifischen Erwartungen veränderten sich, wie Teil III herausarbeitet. Zu Beginn des Krieges wurde vor allem die Ehefrau für das Gelingen des Urlaubs verantwortlich gemacht: "Die liebende Frau [...] muss ihr eigenes Selbst zurückstellen, denn schließlich ist der Urlaub ein Born, aus dem gerade die psychischen Reserven neu aufgefüllt werden sollen." (371) Je länger der Krieg dauerte, desto eher wurden auch die Urlauber dazu angehalten, ihre Familien zu unterstützen und die Heimat moralisch aufzurichten. Daneben trieben die Belastungen der Familie durch kriegsbedingte Trennung und mögliche enttäuschte Erwartungen an die Urlaubszeit Partei und Wehrmachtsführung gleichermaßen um.
Packheiser analysiert die Geschichte des Fronturlaubs als Beziehungsgeschichte zwischen Front und Heimat - juristisch gerahmt von Wehrmacht und Staat, aber eben auch gestaltet von den Soldaten und ihren Familien. Dies zeitigt wichtige Ergebnisse: Aus Sicht des Regimes diente erstens der Fronturlaub nicht nur der Stärkung der individuellen Kampfkraft des urlaubenden Soldaten, sondern insbesondere der Intensivierung der Beziehung von Front und Heimat - was auch die Erfüllung der "reproduktiven Pflichten" der Heimkehrer mit einschloss. Zweitens ist wichtig, dass das Regime in steigendem Maße versuchte, auch die Ausgestaltung des Urlaubs selbst in seinem Sinne zu beeinflussen - je stärker, desto länger der Krieg dauerte und desto ferner der erhoffte "Endsieg" zu rücken schien. Dies geschah durch Regulierung und Überwachung der Reise als zentralem Transformationsritual, aber auch durch propagandistische Indienstnahme der Angehörigen und Familien. Demgegenüber verteidigten drittens viele Urlauber entschlossen ihr Recht auf Privatheit und nahmen dafür notfalls auch Sanktionen in Kauf. Zugleich litten die Familien unter kriegsbedingter Entfremdung, so dass die Harmonie-Forderungen des Regimes immer öfter durch Enttäuschungen konterkariert wurden. Parallel verlor mit steigender Kriegsdauer und zunehmender Härte des Krieges für die Frontsoldaten das Militärische seinen Reiz, während die Familie als Bezugspunkt in den Fokus rückte. Urlaub als privater Rückzugsort wurde für viele genau dann wichtiger, als er schwerer zu bekommen und das ersehnte Zusammensein mit der Familie vermehrt von Friktionen gekennzeichnet war.
Gegenüber diesen wichtigen und weiterführenden Erkenntnissen fallen kleine Kritikpunkte wenig ins Gewicht: Die Dichte der aus Egodokumenten gewonnenen Schilderungen verleiht der Studie eine hohe Plastizität, das ist lobenswert. Doch wären synthetisierende Passagen, auch als Zwischenfazits, hilfreich gewesen, um aus der Fülle der Details den Gang der Argumentation schneller zu erfassen. Ein Sachindex hätte die Benutzbarkeit erleichtert. Positiv hervorzuheben ist dagegen der gut lesbare Stil. Fazit: Christian Packheiser gibt am Beispiel des Heimaturlaubs nicht nur ein weiteres Beispiel für die konfliktreiche und eigensinnige Aushandlung des Privaten in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Seine Studie ist zudem hoch anschlussfähig zur Militär-, Gesellschafts- und Geschlechtergeschichte des Zweiten Weltkriegs und hat zweifellos das Zeug zum Standardwerk.
Anmerkungen:
[1] Albert Neuhaus an Agnes Neuhaus, 3.8.1941 und 6.8.1941. In: Franz-Josef Jakobi / Roswitha Link (Hgg.): Zwischen Front und Heimat. Der Briefwechsel des münsterischen Ehepaares Agnes und Albert Neuhaus, 1940-1944, bearb. v. Karl Reddemann. Münster 1996, S. 271, 273.
[2] https://www.ifz-muenchen.de/aktuelles/themen/das-private-im-nationalsozialismus.
Isabel Heinemann