Rezension über:

Katherine M. Boivin: Riemenschneider in Rothenburg. Sacred Space and Civic Identity in the Late Medieval City, University Park, PA: The Pennsylvania State University Press 2021, XIV + 232 S., 97 Abb., ISBN 978-0-271-08778-8, USD 99,95
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Rezension von:
Dagmar Preising
Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Dagmar Preising: Rezension von: Katherine M. Boivin: Riemenschneider in Rothenburg. Sacred Space and Civic Identity in the Late Medieval City, University Park, PA: The Pennsylvania State University Press 2021, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 7/8 [15.07.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/07/36336.html


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Katherine M. Boivin: Riemenschneider in Rothenburg

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Das Anliegen von Katherine Boivin ist es, die kunsthistorische Raumforschung, die das Geflecht von Auftraggebern und künstlerischen Medien in ihrer spezifischen räumlichen Umgebung diskutiert, weiter zu entwickeln. Ihre Ausführungen gehen von den Untersuchungen der englischsprachigen Autor:innen Jacqueline Jung (2013), Paul Crossley (1998) und Paul Binsky (1995-2004), die sich dem "spatial environment" und der "sacred topography" widmeten, sowie des deutschsprachigen Kunsthistorikers Gerhard Weilandt (2007) aus. Beziehen sich diese früheren Ansätze zumeist auf einzelne Kirchen und ihre Ausstattungen sowie, wenngleich seltener, auf Architekturensembles im Stadtkontext, so erweitert Boivin den Horizont und richtet den Blick auf die mittelalterliche Stadt als komplexes Raumgefüge. Der dynamische, verschiedene Individuen und Institutionen umfassende Prozess des "medieval urban planning" wird von der Autorin am Beispiel von Rothenburg ob der Tauber und seines dort ursprünglich mit wahrscheinlich 9 Retabeln vertretenen berühmten Bildschnitzers Tilman Riemenschneider exemplifiziert. Die Dichte der für diese Stadt überlieferten Altaraufsätze aus dieser einen Bildschnitzer-Werkstatt, die in fast drei Jahrzehnten zwischen ca. 1485 und 1514 angefertigt wurden, das in situ erhaltene Heiligblut-Retabel im Westchor von St. Jakob sowie die gute Quellenlage zu Riemenschneider in Rothenburg liefern schlagkräftige Argumente für diese Wahl. Auch ist Boivin geradezu prädestiniert, über die Geographie von Riemenschneider-Retabeln als Teil dieser Reichsstadt zu arbeiten, hat sie doch 2013 ihre Dissertation zum Kult von Heiligblut und Kreuz im dortigen Stadtpfarrkirchenkomplex veröffentlicht sowie einen Essay zur Topografie eines Stiles in dem von ihr 2021 herausgegebenen Band Riemenschneider in situ verfasst. Nunmehr werden die dort formulierten Gedanken erweitert und das Netzwerk aus Architekturen, Altären, Altaraufsätzen und Reliquien, das die kommunale Identität Rothenburgs mitbestimmt, auf den gesamten urbanen Raum bezogen.

Ausgehend vom Bau der Kollegiats- und Pfarrkirche St. Jakob, dem bedeutendsten Sakralbau der Stadt, der zunächst noch unter der Administration des Deutschen Ordens stand, wird die zunehmende Einflussnahme des Rates der Stadt im 14. und frühen 15. Jahrhundert behandelt. Es wird herausgearbeitet, dass sich die Stadtregierung bereits zu dieser Zeit zu einer mächtigen Institution entwickelt hatte, die das neue Selbstbewusstsein Rothenburgs repräsentierte. So erneuerte sie auch im Verlaufe des 15. Jahrhunderts den älteren Kult um die Heilig-Blut-Reliquie als Fundraising-Projekt für die zwischen 1453 und 1471 erfolgte Errichtung des Westchores. Boivin betrachtet die für Pilgerströme konzipierte architektonische Gestaltung des Westchores mit der darunter durchführenden wichtigen Straßenverbindung, die nach dem Vorbild der Wernerkapelle in Oberwesel erfolgte, und mit der unter der Chorkapelle liegenden Heiltumskammer. In diesem räumlichen und funktionalen Kontext wird das von Schreiner Erhart Harschner und Bildschnitzer Tilman Riemenschneider im Auftrag des Stadtrates 1499 bis 1505 geschaffene Heilig-Blut-Retabel in seiner spezifischen Ausprägung, die auf die örtliche Umgebung ebenso wie auf die Präsentation der Blutreliquie reagiert, diskutiert. Im Folgenden wird die Optik auf die nächstliegenden räumlichen Gegebenheiten von St. Jakob, den städtischen Friedhof und die ehemals östlich der Kirche gelegene, heute nicht erhaltenen Michaelskapelle erweitert. Boivin geht davon aus, dass diese in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts errichtete Michaelskapelle im oberen Kapellenraum ein weiteres Riemenschneider-Retabel beherbergte. Sie nimmt an, dass es sich wahrscheinlich um das Kreuzigungstriptychon aus Detwang gehandelt hat, das sie in eine inhaltliche Korrelation zum Heilig-Blut-Retabel setzt.

Das zentrale Anliegen der Autorin, das in der Sichtbarmachung eines räumlichen Netzwerkes, dem "urban complex", besteht, geht jedoch über eine Betrachtung der Retabel hinaus und zielt auf eine Analyse des räumlichen, funktionalen und ikonografischen Zusammenhangs des gesamten Bau- und Ausstattungskomplexes. Im letzten Schritt werden weitere Retabel von Riemenschneider und seiner Werkstatt sowie, gemäß der dargelegten Topographie dieser Altaraufsätze, schließlich das gesamte städtische Areal in die Überlegungen einbezogen. Zunächst wird der Blick noch einmal auf St. Jakob gerichtet und der dortige Marienaltar am Lettner in die Diskussion einbezogen. Er wird als vermutlich ursprünglicher Standort des Creglinger Retabels angesehen und als Counterpart zum Heiligblut-Retabel diskutiert. In die Betrachtung einbezogen werden im Folgenden auch die drei Riemenschneider-Retabel in der Franziskanerkirche, die im Gegensatz zu den drei nicht-polychromierten Retabeln im Pfarrkirchen-Architekturkomplex (Heiligblut, Creglingen, Detwang) alle mit farbiger Fassung versehen waren. Angesichts dieser Situation unternimmt die Autorin einen Exkurs zum Thema Holzsichtigkeit und kommt zu dem Schluss, dass die Entscheidung der Auftraggeber für oder gegen eine Polychromie weniger eine Frage der verfügbaren Finanzmittel bzw. der Mode vor der Reformation ist, sondern von der jeweiligen individuellen Umgebung abhängig ist. In das örtliche Netzwerk der Kapellen werden zudem die über der zerstörten Synagoge errichtete Marienkapelle am Milchmarkt, die St. Wolfgang-Kapelle mit drei Retabeln aus der Riemenschneider-Werkstatt sowie die Marienkapelle im nahe gelegenen Kobolzell einbezogen. Wallfahrten und Prozessionen an bestimmten Festtagen visualisieren der Autorin zufolge anschaulich die Verbindung zwischen den einzelnen Kultorten. Das Buch schließt mit einem Ausblick auf das moderne mittelalterliche Rothenburg mit seinen Strömen an Touristen, die heutzutage zu den noch erhaltenen Bauten pilgern.

Die Untersuchung Boivins ist gut recherchiert und basiert auf Archivquellen. Sehr begrüßenswert, und in der kunsthistorischen Forschung noch weitgehend neu, ist die erweiterte kontextorientierte Analyse, die über einzelne Bauten hinausgeht und den Stadtraum in seiner Gesamtheit umfasst. Problematisch ist allerdings die Tatsache, dass Boivins Argumentation streckenweise von nicht mit Quellen unterlegbaren Vermutungen ausgeht. So ist weder gesichert, dass das Detwanger Retabel in der Michaelskapelle stand, noch gibt es hieb- und stichfeste Anhaltspunkte für die ursprüngliche Aufstellung des Creglinger Retabels auf dem Marienaltar in St. Jakob. Dessen ungeachtet bringt die Erweiterung der Optik um den Aspekt des den einzelnen Architekturkomplex umgebenden Raumgefüges, auch in seiner sozial-politischen Dimension, interessante Impulse in die wissenschaftliche Diskussion ein. Es liegt hier zudem eine lesenswerte, nicht - wie zumeist - weitgehend oder ausschließlich auf Stil und Ikonographie ausgerichtete Publikation über Riemenschneider vor. Zu guter Letzt sei noch angemerkt, dass es sich bei diesem um den in der amerikanischen Forschung am meisten rezipierten deutschen Bildschnitzer der Spätgotik handelt, was Boivins Interesse mit beflügelt haben mag.

Dagmar Preising