Jan Turinski: Leichenpredigten und Trauerzeremoniell der geistlichen Kurfürsten. Studien zum Bischofsideal und zur Sepulkralkultur in der Germania Sacra zwischen Westfälischem Frieden und Säkularisation (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte; Bd. 147), Münster: Aschendorff 2023, 560 S., ISBN 978-3-402-15952-1, EUR 79,00
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Leichenpredigten - allein das Hohenlohe-Zentralarchiv in Neuenstein verwahrt eine Sammlung mit mehr als zweitausend gedruckten Exemplaren vom 16. bis ins 19. Jahrhundert (Bestand GA 90) - gelten gemeinhin als ein Element spezifisch evangelischer Sepulkralkultur und werden traditionell vor allem als Quellen zur Ermittlung biographischer Daten herangezogen. Nicht von ungefähr widmet sich den mit der Reformation aufgekommenen Leichenpredigten seit 1976 an der Universität Marburg eine, inzwischen der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur zugehörige Forschungsstelle für Personalschriften (https://www.personalschriften.de/), und von 1991 bis 2010 gab es darüber hinaus eine eigene Dependance an der Technischen Universität Dresden zur Dokumentation speziell sächsischer Überlieferungen. Anders als solche primär auf eine weiträumige Beständeerschließung zielende Grundlagenforschung zum Nutzen der historischen Personenforschung interessiert der Autor der vorliegenden Mainzer Dissertation sich nicht für den prosopographischen Gehalt von Leichenpredigten, sondern wählt einen weiter gefassten, kulturhistorischen Zugriff und fragt, fokussiert auf die geistlichen Kurfürsten von Mainz, Köln und Trier von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zum Ende des Alten Reiches, nach dem Zweck, den die jeweiligen Oratoren mit ihren anlässlich der Begräbnisse dieser prominentesten Erzbischöfe des Heiligen Römischen Reichs gehaltenen Ansprachen verfolgten, ganz konkret nach der ideengeschichtlichen beziehungsweise normvermittelnden Dimension derartiger katholischer Leichenpredigten (40).
Nach einer nahezu vierzigseitigen Einführung, in der er die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen und die einschlägige Forschung skizziert sowie sein eigenes Vorhaben erläutert, charakterisiert Turinski zunächst seine insgesamt 25 Protagonisten (Mainz 11, Köln, 6, Trier 8) nach ihrer Herkunft sowie in ihrer Rolle als geistliche Oberhirten, als Landesherren und als Akteure in der Reichspolitik. Im dritten Kapitel widmet er sich der Organisation, Produktion und Distribution der kurerzbischöflichen Leichenpredigten, von denen er aus zwanzig Archiven und Bibliotheken alles in allem 64 Texte zusammentragen konnte; deren Auflagenhöhe erreichte in der Regel beachtliche tausend bis 1.500 Exemplare. Aus der komplexen Struktur des Alten Reiches, seiner Territorien und ihrer Konfessionsverhältnisse erklärt sich, dass darunter auch vier Leichenpredigten evangelischer Provenienz zu finden sind (Erfurt [2], Hildesheim, Worms). Verfasst und vorgetragen wurden die von den jeweiligen Domkapiteln in Auftrag gegebenen und zensierten Sermone in deutscher Sprache gewöhnlich von den zuständigen Dom- beziehungsweise Hofpredigern, bei denen es sich in rund fünfzig Prozent aller Fälle um Jesuiten handelte. In einem weiteren Schritt werden die Leichenpredigten im höfischen Trauerzeremoniell verortet, das zentrale fünfte Kapitel erörtert in großer Ausführlichkeit die Inhalte der Reden und das sechste gilt den "papiernen, steinernen und hölzernen Monumenten in der Germania sacra". Am Schluss steht das gebotene Fazit.
Im Ergebnis erweist sich, dass die untersuchten Leichenpredigten weniger der Person des einzelnen Kurfürsten und Erzbischofs und seiner Memoria galten als vielmehr, nach Art eines Fürstenspiegels, den Zweck hatten, das Idealbild eines geistlichen Fürsten zu entwerfen, indem sowohl seine oberhirtliche als auch seine landesfürstlichen, reichsfürstlichen und dynastischen Qualitäten eingehend thematisiert und gelobt wurden. Erwartungsgemäß galt es zunächst einmal ganz allgemein, den fürsorglichen und milden, allzeit um die Wohlfahrt seiner Untertanen bemühten Landesherrn zu rühmen. Was das (erz-)bischöfliche Amt betrifft, legte man in Trier und Mainz größeren Wert auf dessen sakral-liturgische Funktionen, während die Kölner Tradition eher auf die gesetzgeberischen Kompetenzen des Erzbischofs abhob. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, unter dem Eindruck der Aufklärung und einer zunehmenden Anfeindung geistlicher Herrschaft, ist freilich generell eine stärkere Betonung des bischöflichen Amts und seiner Obliegenheiten zu konstatieren, und es wird insbesondere die Leistung des geistlichen Fürsten als Bewahrer des Katholizismus geschätzt, nicht zuletzt weil er das Schul- und Hochschulwesen gefördert hatte. Freilich folgte man bei solcher Stilisierung keineswegs in allem dem tridentinischen Bischofsideal, sondern entwickelte durchaus auch eigene Vorstellungen; so wurde denn einerseits der hochgelehrte und stets wissbegierige Prälat gelobt, andererseits aber die in der Germania Sacra weit verbreitete und vom Trienter Konzil ausdrücklich nicht gutgeheißene Pfründenhäufung nicht etwa problematisiert, sondern als Ausdruck persönlicher Dignität gefeiert. Zugleich trat die reichs- und kurfürstliche Rolle mehr und mehr in den Hintergrund, selbst in Mainz, wo man doch in älterer Zeit so gern die Nähe des Reichserzkanzlers zum Kaiserhof hervorgehoben hatte. Auch Idealbilder wandeln sich, und die Perspektiven auf sie wandeln sich ohnehin.
In summa: Ein lesenswertes, anregendes und obendrein gut geschriebenes Buch, das indes mit dem Verzicht auf zahlreiche unnötige Wiederholungen manche Seite hätte einsparen können.
Kurt Andermann