Hervé Mazurel: L'inconscient ou l'oubli de l'histoire. Profondeurs, métamorphoses et révolutions de la vie affective (= Collection Ecritures de l'Histoire), Paris: La Découverte 2021, 590 S., ISBN 978-2-7071-9708-5, EUR 16,99
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Die historische Forschung macht insbesondere dank der Körper-, Geschlechter- und Emotionsgeschichte nicht an der Haut des Individuums Halt. Gegenstände wie Krankheiten oder Affekte, die lange als natürlich gegeben und somit invariant galten, wurden in ihrer Historizität beschrieben. Hervé Mazurel (Université de Bourgogne), fordert in seiner 2021 veröffentlichten Habilitationsschrift zu einem weiteren Schritt auf: der Historisierung des Unbewussten.
Der Autor versucht im umfangreichen Werk den Nachweis zu erbringen, dass das Unbewusste dem sozialgeschichtlichen Wandel nicht entzogen ist. Das affektive Leben der Menschen, so die These, ist ebenso gesellschaftlich und historisch geformt wie die Außenwelt. Die Arbeit ist dabei "vor allem die eines Lesers" (23): Es widmet sich der Aufgabe, anhand der Interpretation verschiedenster Literatur die Frage nach einem historisch-sozialen Unbewussten scharf zu konturieren. In einer tour de force durch die historische Forschung zu Körpern, Sexualität und Affekten und die psychoanalytische Theorie zeichnet Mazurel die Umrisse eines teilweise schon erschlossenen Kontinents ab.
Die Monografie ist in vier Teile mit jeweils mehreren Kapiteln gegliedert, an die insgesamt fünf Postskripta angeschlossen sind. Zuerst widmet sich Mazurel einer ideengeschichtlichen Darstellung der Gründe für die verpasste Begegnung von Psychoanalyse und Geschichte. Einer "belagerten Zitadelle" (33) gleich habe erstere ihre Einheit als Disziplin wahren wollen, indem sie der Historisierung energisch widerstanden habe. An der Überzeugung, das Unbewusste sei zeitlos, invariant und bei allen Menschen identisch, habe sie festgehalten, um ihr Forschungsfeld zu verteidigen. Doch auch der Geschichtswissenschaft attestiert Mazurel eine sträfliche Ignoranz der Psychoanalyse. Er weist allerdings überzeugend auf ihr untergründiges psychoanalytisches Erbe hin. Dieses zeigt sich besonders in der Aufmerksamkeit für die Nachträglichkeit von Ereignissen, beispielsweise dem Fortleben kolonialer Traumata.
Verworfen werden die biologische Erklärung des Unbewussten, so in der Idee der Vererbung des Ödipuskomplexes, sowie die metaphysischen Residuen, zu denen Mazurel den Dualismus von Eros und Thanatos zählt. Ihnen wie auch der strukturalistischen Psychoanalyse Lacans stellt der Autor entgegen: "Der psychische Mensch ist von einem bis zum anderen Ende historisch". (155) Die Psychoanalyse habe den Menschen mit dem Wiener Bürger identifiziert. So sei die Gesellschaft nur als Wiederholung von dessen Familienrollen gedacht worden. Entgegen dieser ethnozentrischen Hypostasierung des zeitgenössischen Familienmodells ist Ödipus für Mazurel keine überzeitliche Konstante der Menschennatur, sondern ein Ergebnis der historisch kontingenten Formation der europäischen Kleinfamilie.
Der Kronzeuge für Mazurels Argumentation ist nicht Freud, von dem kaum mehr als der Begriff der Verdrängung übernommen wird, sondern Norbert Elias. Der Autor folgt Elias' Versuch, den Zivilisationsprozess als eine Geschichte der gesellschaftlich-psychischen self-control zu beschreiben. Der Wandel des Über-Ichs wird so als Geschichte von Verboten und Interiorisierung von sozialem Zwang erforschbar. Mazurel nennt als Beispiele für diesen Prozess die Einrichtung von separaten Schlafzimmern oder die Verdrängung körperlicher Gerüche und Geräusche in die "Kulissen" des gesellschaftlichen Lebens. Über die Betrachtung von Normen und Sanktionierungen der Körperlichkeit ließe sich die parallele Entwicklung von gesellschaftlicher und psychischer Struktur erhellen.
Das Instanzenmodell, das Freud entwarf, wäre somit das Ergebnis historischer Prozesse, die Mazurel von Elias übernimmt: Individualisierung, Zivilisierung und Privatisierung (202-203). Erst diese hätten das Individuum hervorgebracht, das die Psychoanalyse der Gesellschaft als "homo clausus" gegenüberstellen will. Als Ansatz zur Beschreibung der sozialen Dimension der Psyche nennt Mazurel die Untersuchung identitätsstiftender Erzählungen, in denen sich nicht nur das Ich-Ideal, sondern auch ein kollektives Ideal sich ausspricht. Ein weiteres Werkzeug sieht der Autor in Bourdieus Habitus-Begriff, der eine "zum Körper gemachten Geschichte" fasst (209). Schlussendlich übernimmt Mazurel aus der Anthropologie die Idee der Kultur als eines Systems von Verteidigungen gegen Triebregungen. Nicht nur eine Kultur, sondern auch eine soziale Gruppe oder Generation würden Phantasmen, Ängste und Triebe teilen, die sich untersuchen lassen.
An verschiedenen Gegenständen versucht Mazurel nachzuweisen, dass die Psyche gesellschaftlich und historisch, das Unbewusste mithin "singulär-plural" ist (272). Zuerst kann der Spur Michel Foucaults folgend die "Historizität des Begehrens" untersucht werden (295). Als Beispiele für die "Metamorphosen der Libido" führt Mazurel die Lockerung derjenigen sexuellen Tabus nach dem Zweiten Weltkrieg an, die in den Freud'schen Analysen noch die Ursache der Neurosen bildeten. Zweitens lässt sich anhand der Untersuchung der Disziplinierungen und der Selbstkontrolle der Aggressivität die psychische Infrastruktur einer Gesellschaft beschreiben. Dies könne besonders durch die Analyse der Toleranzschwellen gegenüber Gewalt und Gewaltausbrüchen geleistet werden. Drittens erblickt Mazurel in Erfahrungen des "Paroxysmus" (390) und der Exzesse, die eine Gesellschaft sucht oder imaginiert, eine Rückkehr des Verdrängten. Anhand von Feiern, Teufelserscheinungen und Erfahrungen des Heiligen könne die Geschichtswissenschaft sich dem Verdrängten einer Epoche nähern.
Im letzten Teil des Buches werden drei Wege der Erforschung des historischen Unbewussten geöffnet. Erstens ließe sich anhand des Wandels von Krankheitsbildern und den gesellschaftlichen Praxen, mit diesen umzugehen, das weite Feld der Geisteskrankheiten als Gesellschaftsgeschichte erschließen. Aufmerksamkeit widmet Mazurel dabei exemplarisch dem Krankheitsbild der Posttraumatischen Belastungsstörung. Zweitens entwickelt das Buch die These, dass Ödipus in einer zunehmend vaterlosen Gesellschaft durch Narziss ersetzt würde. Damit lädt Mazurel die Forschung ein, den spezifischen (Familien)Formationen nachzugehen, in denen sich Autorität verkörpert. Zuletzt plädiert das Buch für eine Geschichtsschreibung der Träume, die einen "Königsweg" (535) zum gesellschaftlichen Imaginären bilden.
Die Monografie schließt mit einer Aufzählung möglicher Quellen, um die "Geschichte in uns selbst" zu schreiben (560). Den Nachweis, dass die Libido sozial und das Soziale libidinal (198) ist, erbringt sie vielfach. Dem Leser stellt sich allerdings die Frage, ob sie nicht die Lacan'sche These, das Begehren ginge dem Sozialen voraus, einfach umkehrt. Der vom Autor wiederholt zitierte Adorno warnte vor einer solchen "Vereinigung der Determinanten von Kultur und Individualpsychologie" im Neofreudismus und beharrte auf der "Libido als ein Vorgesellschaftliches". [1]
Am Ende bemerkt der Autor, der Begriff des Unbewussten, der alle "verkörperlichten Vergangenheiten" (582) bezeichnen soll, sei bemerkenswert "breit" geblieben (577). Es verschwindet sowohl der Begriff des Widerstands als auch die "Opazität des Unbewussten" [2], in der ein unaufhebbarer Rest der Identität von Geschichte und Unbewusstem entkommt. Psychoanalyse und Geschichtswissenschaft scheinen so weniger "versöhnt" (154), als erstere von letzterer annektiert. Interessant wäre es, sich von der Psychoanalyse zu einer Reflexion über die Grenzen des historischen Erkennens anregen zu lassen.
Mazurels beeindruckende Monografie weist über verschiedenste Forschungsfelder hinweg die Chancen einer erneuten Begegnung von Geschichte und Psychoanalyse nach. Das Buch bietet dabei einen umfassenden Überblick über die Literatur, in der sich die Wege der zwei Disziplinen kreuzen. Es wäre erfreulich, wenn die Studie dazu beitragen würde, den Begriff des Unbewussten zu retablieren. Zuletzt sei auch die affektive Seite des Buches hervorgehoben: Mazurel versteht es, die Lust an der Entdeckung einer terra incognita zu wecken.
Anmerkungen:
[1] "Und um so scheinhafter dagegen wird die Anwendung gesellschaftstheoretischer Erwägungen auf Psychologie, je unbedenklicher die Wechselwirkung von innerer und äußerer Welt auf die Oberfläche verlagert wird. [...] Aber was sie [Karen Horney, NSt] als die Vereinigung der Determinanten von Kultur und Individualpsychologie ausgibt, perpetuiert ihre Trennung, während die radikale Psychoanalyse, indem sie sich auf Libido als ein Vorgesellschaftliches richtet, phylogenetisch wie ontogenetisch jene Punkte erreicht, wo das gesellschaftliche Prinzip der Herrschaft mit dem psychologischen der Triebunterdrückung koinzidiert." Theodor W. Adorno: Die revidierte Psychoanalyse (= Gesammelte Schriften; 8), Frankfurt am Main 1972, 20-41, 27.
[2] Jean-François Lyotard: Dérive à partir de Marx et Freud, Paris 1994, 10.
Niklas Steinkamp