Rezension über:

Leon Wansleben: The Rise of Central Banks. State Power in Financial Capitalism, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2023, XVII + 328 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-0-674-27051-0, USD 45,00
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Rezension von:
Matthias Kemmerer
Frankfurt/M.
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Matthias Kemmerer: Rezension von: Leon Wansleben: The Rise of Central Banks. State Power in Financial Capitalism, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 9 [15.09.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/09/37846.html


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Leon Wansleben: The Rise of Central Banks

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Finanzialisierung, Neoliberalismus, entfesselte Finanzmärkte - die Klagen über die vorgeblichen Exzesse des Weltfinanzsystems sind Legion. Im Gegensatz zur Zeitgeschichte haben die Internationale Politische Ökonomie und die Wirtschaftssoziologie seit Längerem eine Vielzahl an Studien vorgelegt, die das Phänomen der finanziellen Globalisierung erhellen. Nicht wenige dieser Texte mäandern gleichwohl zwischen empirischer Beobachtung und normativer Botschaft, um sich letztlich in Foucault-Exegesen zu erschöpfen. Leon Wanslebens Darstellung zum Machtzuwachs von Zentralbanken seit den 1970er Jahren gelingt es, sich hiervon abzuheben.

Wansleben, Leiter der Forschungsgruppe Soziologie öffentlicher Finanzen und Schulden am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, untersucht (westliche) Zentralbanken als Akteure des Gegenwartskapitalismus: Wie haben sie seit dem Ende des Währungssystems von Bretton Woods ihre Verbindung zum Finanzsektor zum Zwecke ihrer eigenen Politik (um-)gestaltet? Und wie haben sie dadurch bis heute die Strukturen und Dynamiken innerhalb des Finanzsektors verändert?

Nach Wansleben müsse die akademische Kritik am Neoliberalismus (den er nicht theoretisiert, sondern als zeitgenössische Ära gesetzt sieht) stärker die Verteilungseffekte von Geldpolitik untersuchen. Fundierte Kenntnisse in Geldtheorie und Makroökonomie vorausgesetzt, dürfte gerade diese verteilungstheoretische Perspektive die Lektüre des Buches auch für die sozialhistorische Forschung interessant machen.

Die Neoliberalismus-Kritik überschätze ferner, so Wansleben, die Wirkmächtigkeit von Ideen; diese kämen in Organisationen nicht so sehr zum Tragen. Angelehnt an Daniel Carpenters Konzept der bureaucratic autonomy betrachtet Wansleben Zentralbanken als sich verselbstständigende Bürokratien beziehungsweise Bankorganisationen, die in privaten (Finanz-)Märkten intervenieren und dadurch zu machtvollen Institutionen des Weltfinanzsystems werden. Wansleben übernimmt zudem Argumentationsmuster der Critical Macro Finance. Dieser Ansatz fragt insbesondere nach den Strukturbedingungen und dem Unterbau der globalen Finanzmärkte wie dem Interbankenhandel oder der Bereitstellung und dem Entzug von Liquidität (beispielsweise durch Rückkaufvereinbarungen, sogenannte Repos).

Zentralbanken gehe es, so Wansleben, im Wesentlichen um die Herstellung von Output-Legitimation: Sie müssten die Inflation unter Kontrolle bekommen, um ihre Rolle zu legitimieren, was in der Folge ihre Politik und Rollenstrukturen determiniere. Dies führe aufgrund der finanziellen Globalisierung seit den 1970er Jahren zu einer Spirale der Selbstermächtigung, die ein nicht nachhaltiges Finanzsystem am Laufen halte: Einerseits verstetige und vergrößere das Zentralbankhandeln die soziale Ungleichheit via Vermögenspreisinflation, andererseits befördere es - trotz gleichzeitiger Stabilitätsillusion - eine permanente systemische Instabilität. Insofern hält es Wansleben für angezeigt, die konkreten Regierungstechniken der Notenbanken nachzuvollziehen und kritisch zu reflektieren.

Nach Einleitung und theoretischem Rahmen durchleuchtet Wansleben in fünf weitgehend chronologischen Hauptkapiteln die Geldpolitiken der Schweizer Nationalbank (SNB) und der Bank of England, die er, wenn auch knapp, mit der Deutschen Bundesbank und der US-amerikanischen Federal Reserve (Fed) vergleicht. Die SNB und die Bundesbank fungieren bei Wansleben als historische Vertreter eines praktischen Monetarismus, der sich - vorrangig aus praktischen Erwägungen und weniger aus Einsicht in die Ideen Milton Friedmans oder Karl Brunners - an der Geldmenge orientiert(e). Dagegen zeichnet Wansleben die Bank of England und die Fed als Erfinder der aus dem Neukeynesianismus entwickelten direkten Inflationssteuerung, mit der Zentralbanken auf vorab festgelegte Inflationsziele hinarbeiten. Das letzte Hauptkapitel erweitert die Untersuchung um die Europäische Zentralbank und beleuchtet die Ausweitung (und Aporien) der noch heute vorherrschenden Inflationssteuerung mittels quantitativer Lockerung.

Wansleben legt überzeugend dar, wie wichtig Erwartungsmanagement und (öffentliche) Kommunikation für das Handeln von Zentralbanken geworden sind, da sie hierdurch makroökonomische Steuerung beanspruchen oder zumindest suggerieren. Glaubwürdige und berechenbare Kommunikation mit der Finanzmarktöffentlichkeit sei gerade in den USA und Großbritannien wichtig geworden, weil sich in diesen Ländern mit New York und London die bedeutendsten westlichen Finanzplätze befinden.

Geldpolitischer "Erfolg" und geldpolitische Legitimation hingen nun hochgradig vom jeweiligen Wirtschafts- und Regulierungsmodell ab. Wansleben kontrastiert den bundesdeutschen Korporatismus und intimen schweizerischen Föderalismus mit den USA und Großbritannien, wo entweder ein Dickicht an formal zuständigen Behörden (USA) oder lange ein hohes Maß an informeller Aushandlung und ungeklärten Zuständigkeiten (Großbritannien) vorgeherrscht hätten. Der Monetarismus in Großbritannien sei zum Beispiel nicht zuletzt am Widerspruch von Geldmengenbegrenzung und gleichzeitig schuldengetriebener Finanzialisierung unter Premierministerin Margaret Thatcher gescheitert. Die Bundesbank und SNB hätten dagegen von einem stringenteren Durchgriff auf nationale Marktakteure profitiert.

Empirisch fußt die Studie auf zahlreichen Interviews mit hochrangigen Vertretern der SNB, der Bank of England, der Fed sowie (bis zu den späten 1980ern) auf Archivquellen. Hier verwundert, dass Wansleben nur mit einem einzigen Repräsentanten der Bundesbank gesprochen hat. Eine Pionierleistung ist allerdings, dass er bisher unveröffentlichte Quellen zur schweizerischen Geldpolitik auswertet (Schweizer Nationalbank, Schweizerisches Bundesarchiv, Schweizerische Bankiervereinigung). Damit lassen sich fruchtbare Vergleiche mit der Bundesbank ziehen. Gleichwohl lässt Wansleben jüngere Ergebnisse der Bank- und Finanzgeschichte unberücksichtigt. [1] Sein hartes Urteil zur organisierten Ignoranz der Zentralbanken bei der Bankenregulierung wäre so womöglich nuancierter ausgefallen.

Obschon unter den benutzten Archiven gelistet, werden die Bestände der Bundesbank und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich fast nicht zitiert. Die (digitalisierten) Protokolle des Federal Open Market Committee (FOMC), das über An- und Verkäufe von Wertpapieren (Offenmarktgeschäfte) durch die Fed entscheidet, zieht Wansleben ebenfalls nur vereinzelt heran. Leider ist dieses Vorgehen hochselektiv, weil es die weitreichende Überlieferung der westdeutschen Bundesbehörden oder des britischen Finanzministeriums ausklammert. Für Großbritannien stützt sich Wansleben allein auf die Archive der Bank of England und der Margaret Thatcher Foundation. Wie Regierungen (aber auch Geschäftsbanken) etwaige Verschiebungen in der Machttektonik wahrgenommen oder darauf reagiert haben, bleibt somit unterbelichtet.

Wenngleich Wansleben empirisch nicht alle theoretischen Postulate einlöst, liefert seine anspruchsvolle Studie einen frischen politökonomischen Blick auf das Zentralbankwesen seit den 1970er Jahren. Gerade die deutsche Wirtschafts- und Zeitgeschichte sollten sich von diesem lesenswerten Buch ermuntert fühlen, sich Zentralbanken und Finanzmärkten ähnlich ambitioniert zu widmen.


Anmerkung:

[1] Claudio Borio u.a. (eds.): Promoting Global Monetary and Financial Stability. The Bank for International Settlements after Bretton Woods, 1973-2020, Cambridge 2020; Alexis Drach: Liberté surveillée. Supervision bancaire et globalisation financière au Comité de Bâle, 1974-1988, Rennes 2022; Clemens Krauss: Geldpolitik im Umbruch. Die Zentralbanken Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland in den 1970er Jahren, Berlin 2021.

Matthias Kemmerer