Nicholas John Williams: "Die Gefangenen leiden sehr unter ihrer Lage". Die Betreuung deutscher NS-Täter durch Hans Stempel und Theodor Friedrich (= Forum historische Forschung: Moderne Welt), Stuttgart: W. Kohlhammer 2023, 209 S., ISBN 978-3-17-042470-8, EUR 55,00
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In jüngster Zeit war die Evangelische Landeskirche der Pfalz, eine eher kleine Regionalkirche, Gegenstand einer Reihe bedeutender Untersuchungen zu ihrer Geschichte im 'Dritten Reich' und genereller zu ihrer Rolle im 20. Jahrhundert. Besondere Beachtung und Anerkennung weit über die Grenzen der Region hinaus fand die zweibändige, annähernd eintausend Seiten umfassende Publikation Protestanten ohne Protest [1] über die südwestdeutsche Landeskirche während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der programmatische Titel dieses Sammelbands bringt treffend auf den Punkt, was über das Verhalten der Evangelischen der pfälzischen Kirche während des 'Dritten Reiches' zu sagen ist: Sie machten mit und protestierten nicht. In den erweiterten Kontext der während dieses kirchlichen Großprojekts entstandenen Forschungen reiht sich die vorliegende Studie des britischen Historikers Nicholas John Williams - derzeit Leiter des Zentrums für ostbelgische Geschichte in Eupen - über die Betreuung in Frankreich inhaftierter deutscher NS-Täter durch die pfälzischen Pfarrer Hans Stempel und Theodor Friedrich ein.
Der Verfasser untersucht ein breites Themenspektrum: die zögerliche und unzureichende kirchliche Entnazifizierung in der Pfalz; das maßgeblich von Hans Stempel, einem Bekenntnispfarrer, geknüpfte Netzwerk zur Betreuung von inhaftierten NS-Tätern sowie die mit diesem Netzwerk verbundenen Akteure samt französischen wie deutschen Ansprechpartnern; die eher schwach ausgeprägten Kontakte Stempels zur Stillen Hilfe der Prinzessin Helene Elisabeth von Isenburg, einer obskuren Verbindung von zumeist revisionistisch gesinnten ehemaligen NS-Tätern; schließlich die Betreuung von durch französische Gerichte verurteilten und in Frankreich inhaftierten Ex-Nazis, darunter die SS-Führer Carl Oberg und Helmut Knochen, die Ärzte Otto Bickenbach und Eugen Haagen, die im elsässischen KZ Natzweiler-Struthof Menschenversuche an Häftlingen geführt hatten, ferner einige inhaftierte ehemalige Leiter und Wachmänner dieses Konzentrationslagers.
Hans Stempel gehörte zu den Mitbegründern der pfälzischen Pfarrbruderschaft im 'Dritten Reich' und war politisch, wie so viele evangelische Theologen, deutschnational geprägt. Radikaler Bekenntnispfarrer war er nicht, eher kirchenpolitisch gemäßigt und kompromissbereit. Nach dem Krieg stieg er 1948 zum Kirchenpräsidenten der Landeskirche auf. Aufgrund seiner zahlreichen Besuchsreisen zur Betreuung von Inhaftierten in Frankreich führte er bald nach dem Krieg die (inoffizielle) Bezeichnung "Ratsbeauftragter der EKD für die Betreuung der Kriegsverurteilten". Dass es sich bei diesem kirchlichen Engagement vorwiegend um in Frankreich verurteilte NS-Kriegsverbrecher handelte, bemäntelt diese Formulierung allerdings ein Stück weit. 1955 wurde der amtierende pfälzische Kirchenpräsident für seinen seelsorgerlichen Einsatz und seine sonstigen Unterstützungen für die in Haft befindlichen "Kriegsverurteilten" mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt.
Mit vorschnellen Bewertungen dieser besonderen Art von kirchlich-diakonischer Tätigkeit zu Nachkriegszeiten, die ja parallel auch für andere Landeskirchen bestätigt worden ist, hält sich der Verfasser eher zurück. Dass die Kirchen sich zu jener Zeit generell sehr viel intensiver für NS-Täter einsetzten und weniger die Schicksale und Leiden der NS-Opfer vor Augen hatten, wird auch in dieser Arbeit wiederholt und durchaus kritisch eingeräumt. Der Verfasser ist in der Bewertungsfrage allerdings recht skrupulös und gesteht im Schlusskapitel, dass er mit der komplexen Problematik dieses Themas "gerungen" habe, um zu historisch angemessenen Urteilen zu gelangen (188). "Hans Stempel vertrat", so resümiert Williams, "ein ganz eigenes, heute zwar nicht mehr vertretbares, so doch zumindest komplexes, auch den Umständen seiner Zeit und seiner Bedürfnisse entsprechendes Schuldverständnis. Nur weil dieses nach heutigem Verständnis an vielen Stellen defizitär war, war es deshalb nicht inexistent. Es gilt, das Handeln der Akteure aus ihrem jeweiligen Kontext heraus zu verstehen und zu kritisieren." (193).
Ja, gewiss, aber mit seiner sehr unentschiedenen und teils recht wohlwollend formulierten Schlussbemerkung überzeugt mich der Verfasser nicht. Es gab schon während der 1950er Jahren auch Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, darunter auch viele kirchliche, die jenen einseitigen Einsatz sogenannter kirchlicher Liebestätigkeit für die NS-Täter scharf kritisierten. Dahinter sollten heutige Historiker nicht zurückfallen. Kurz, mehr Mut zum eigenen, entschiedenen historischen Urteil hätte dieser insgesamt durchaus lesenswerten und auf breiter Quellenbasis argumentierenden Untersuchung gutgetan.
Anmerkung:
[1] Vgl. Christoph Picker / Gabriele Stüber / Klaus Bümlein / Frank-Matthias Hofmann (Hgg.): Protestanten ohne Protest. Die evangelische Kirche der Pfalz im Nationalsozialismus, 2 Bände, Speyer / Leipzig 2016.
Manfred Gailus