Rezension über:

Marie-Christin Schönstädt: Wissenschaft evaluieren. Der Wissenschaftsrat und das ostdeutsche Wissenschaftssystem während der Wende (1989/90) (= Wissenschaftskulturen. Reihe III: Pallas Athene; Bd. 57), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2024, 300 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-13590-0, EUR 62,00
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Rezension von:
Mitchell G. Ash
Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Mitchell G. Ash: Rezension von: Marie-Christin Schönstädt: Wissenschaft evaluieren. Der Wissenschaftsrat und das ostdeutsche Wissenschaftssystem während der Wende (1989/90), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2024, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 9 [15.09.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/09/39313.html


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Marie-Christin Schönstädt: Wissenschaft evaluieren

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Das vorliegende Buch, eine überarbeitete Fassung der Dissertation der Autorin, ist die erste Monografie über die Rolle des Wissenschaftsrats (WR) in der Evaluierung der Institute der Akademie der Wissenschaften der ehemaligen DDR (AdW). Die Darstellung knüpft an frühere Behandlungen der Geschichte des WR an, beruht jedoch vor allem auf Archivalien des WR bzw. dessen Geschäftsstelle, die nunmehr im Bundesarchiv Koblenz liegen, sowie auf Interviews mit drei führenden Akteuren der Evaluationen: Dieter Simon, damals Vorsitzender, und Wilhelm Krull, damals Referatsleiter des WR, sowie Max Kaase, Vorsitzender der Arbeitsgruppe (AG) Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des Evaluierungsausschusses. Bezüglich der Sekundärliteratur sieht Schönstädt die Analysen von Renate Mayntz kritisch wegen ihrer Beteiligung am Vorgang. Trotzdem zitiert sie Mayntz zu Recht ebenso häufig wie neuere Arbeiten von Krijn Thijs zur Evaluierung der Geschichtswissenschaften. Die einschlägigen Erinnerungen des Ministers Hans Joachim Meyer scheinen im Literaturverzeichnis hingegen nicht auf. Weil Perspektiven, Interessen und Strategien der ostdeutschen Betroffenen "nur schlaglichtartig betrachtet" (20) werden, handelt es sich weniger um eine integrierte Behandlung des Einigungsprozesses in diesem Bereich als um eine Analyse vom westdeutschen Standpunkt aus.

In der Einleitung formuliert Schönstädt zwei Thesen: Die erste These - dass die Evaluierung der AdW-Institute von vornherein durch die asymmetrischen Machtverhältnisse der beiden deutschen Staaten geprägt war und die ostdeutsche Wissenschaft deshalb "nach westdeutschem Muster" (12) bewertet wurde - ist von Kritikern des Verfahrens sogleich und auch von Dieter Simon selbst schon 1992 behauptet worden und gilt seitdem als Konsens der Forschung. Neu hingegen sind der Fokus auf konkrete Praktiken der Evaluierung und die Allianz zwischen älteren Mitgliedern des WR wie Simon und Kaase, die sich an der USA orientierten, mit jüngeren Mitarbeitern der Geschäftsstelle wie Krull entlang der Absicht, mehr Wettbewerb in das deutsche Wissenschaftssystem einzuführen. Auch nicht neu, aber durchaus plausibel ist die zweite These, dass die als Erfolg wahrgenommene Evaluierung der AdW-Institute in den 1990er Jahren zur Legitimierung der Verstärkung des Wettbewerbs in der Wissenschaftspolitik des vereinigten Deutschlands beitrug.

Deutungsrahmen der Arbeit ist eine Verbindung von Wissensgeschichte im Sinne Philipp Sarasins mit der Theorie sozialer Verfahren nach Niklas Luhmann. Interessant in letzterer Hinsicht ist der Begriff des Kontingenzmanagements. Auf eine Unterscheidung zwischen Struktur- und Handlungskontingenz fußt die dritte These der Arbeit, dass der WR und die Evaluierenden "eine Strukturkontingenz in eine Handlungskontingenz" (28) umdeuteten, indem sie das seit den 1980er Jahren vom WR verwendete Verfahren normalisierten und Alternativen dazu nicht in Erwägung zogen.

Im zweiten und dritten Kapitel bespricht Schönstädt unter der Rubrik Wissensgeschichte die bundesdeutsche DDR-Forschung sowie die sehr unterschiedlichen Strukturen und Finanzierungsmodelle der Wissenschaftspolitik in beiden deutschen Staaten vor 1990. Dabei zeigt sie, dass der beachtliche Wissensbestand der DDR-Forschung zur Hochschul- und Wissenschaftspolitik der DDR von der allgemeinen Politik kaum zur Kenntnis genommen wurde. Stattdessen beklagten die Hauptakteure dieses Feldes im Vereinigungsjahr 1990 ihr Unwissen über das Wissenschaftssystem der DDR.

Im vierten Kapitel geht Schönstädt ausführlich auf die Wende zwischen dem Mauerfall und dem Termin der staatlichen Wiedervereinigung im Bereich der Wissenschaftspolitik sowie auf den Anlauf zum Evaluierungsverfahren im WR ein. Der scharfe Fokus auf den WR bringt es mit sich, dass Initiativen anderer Einrichtungen wie der Max-Planck-Gesellschaft und der Fraunhofer-Gesellschaft erwähnt, aber nicht eigens besprochen werden. Die Arbeit der von Simon gegründeten AG Deutsch-deutsche Wissenschaftsbeziehungen und die daraus hervorgegangene, von Krull entworfene Stellungnahme des WR "Perspektiven der Wissenschaft und Forschung auf dem Weg zur deutschen Einheit. 12 Thesen" vom Juli 1990 werden hingegen zu Recht betont. Wichtig sind zwei Befunde: (1) Die falsche Grundannahme, dass die Grundlagenforschung der DDR an der AdW stattfand und auf die Universitäten "zurückzuführen" sei, entstand sehr früh und blieb für die gesamte Evaluierung handlungsleitend. (2) Bereits in der Stellungnahme vom Juli 1990 brachten die Akteure im WR ihre Hoffnung zum Ausdruck, die Evaluierung der AdW-Institute als Vorstufe zu einer ebenso flächendeckenden Prüfung im Westen zu nutzen und damit den Wettbewerb zu stärken.

Erst im fünften Kapitel kommt Schönstädt zur Evaluierung der Institute der AdW der DDR in der Praxis, die sie anhand der Arbeitsgruppe Wirtschafts- und Sozialwissenschaften genauer beleuchtet. Die Rolle regionaler Netzwerke in der Rekrutierung der AG-Mitglieder kommt deutlich zum Vorschein. Anhand des Instituts für Wirtschaftsgeschichte und des erst 1990 gegründeten Instituts für zeithistorische Jugendforschung zeigt Schönstädt, wie das Spannungsverhältnis zwischen den beratend beteiligten Historikern und den eher nicht historisch orientierten Sozialwissenschaftlern die Ergebnisse beeinflusste. Die Intransparenz des Verfahrens für die ostdeutschen Evaluierten und ihre Versuche, sich nachträglich gegen das Negativergebnis zur Wehr zu setzen, arbeitet Schönstädt klar heraus. Allerdings zeigen insbesondere die von der AG unternommenen Besuche an den Hochschulen, die dort als Evaluierungen wahrgenommen wurden, dass die Arbeit dieser AG eher atypisch für die Evaluierung insgesamt war.

Im sechsten Kapitel bespricht Schönstädt die positive Einschätzung des WR nach dieser als Erfolg wahrgenommenen Kraftanstrengung, die von den internen Kämpfen während der kurzen Amtszeit des Zoologen Hans Neuweiler zeitweilig betrübt wurde. Die "Systemevaluation" der DFG und der MPG in den späten 1990er Jahren stellt sie, Wolfgang Krull folgend, als eine verspätete Nachholung der im Juli 1990 erhofften Evaluierung im Westen dar. Damit wird die dritte These der Arbeit teilweise bestätigt, wenngleich die Hochschulen sich aus diesem Vorgang erfolgreich heraushielten. Die bedeutende Rolle des WR als maßgebliche Instanz im Aus- und Umbau des Hochschulsystems in den ostdeutschen Bundesländern bleibt dabei unterbelichtet. Das Kapitel schließt mit Rückblicken der westdeutschen Hauptakteure zehn Jahre nach der deutschen Vereinigung. Der Bogen reicht von dem schon seit 1991 erzählten Narrativ einer erfolgreichen "Erneuerung" der Wissenschaft im Osten bis hin zur scharfen Selbstkritik von Dieter Simon und Jürgen Mittelstraß.

Zusammenfassend stellt das Buch einen ersten wertvollen Schritt zur Auslotung der Rolle des WR im Prozess der deutschen Vereinigung dar. Bedauerlich ist es jedoch, dass Schönstädt die Evaluation der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften pars pro toto interpretiert. Dass die Evaluation in den Natur- und Technikwissenschaften nicht derart asymmetrisch verlief wie in diesem Bereich deutet sie immerhin gelegentlich an.

Mitchell G. Ash