Mathias Häußler / Mechthild Roos (Hgg.): Europäische Einigung zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Eine historische Bestandsaufnahme (= Zeitgeschichte im Gespräch; Bd. 36), Berlin: Metropol 2024, 165 S., ISBN 978-3-86331-750-8, EUR 16,00
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Die historische Forschung zur europäischen Integration leidet an einem Rezeptionsproblem. Weder im Fach noch in der Öffentlichkeit darf sie sich größerer Wahrnehmung erfreuen. Die Herausgeber Mathias Häußler und Mechthild Roos versuchen sich in ihrer Einleitung an einer Erklärung für diese selbstgestellte Diagnose. Dabei stellen sie die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit in den Mittelpunkt - sie ist zu Recht titelgebend. Die von den europäischen Institutionen erzählte Erfolgsgeschichte reibe sich mehr und mehr an den Ergebnissen einer zunehmend differenzierten Forschung. Häußler und Roos verweisen auf den Exklusivitätsanspruch der EU, der andere Stränge der Integrationsgeschichte ausblende, sowie auf den Kontrast zwischen der Selbstwahrnehmung und der Außenwahrnehmung der EU und auf die Konflikte innerhalb der EU.
Also wie kann ein geschichtswissenschaftlicher Blick auf die Integrationsgeschichte populärer werden? Der Sammelband verfolgt drei Ansätze: eine Herausarbeitung zentraler Themen und Entwicklungen, einen von Jargon befreiten Schreibstil und ein Verständnis von Zeitgeschichte als Vorgeschichte "gegenwärtiger Problemkonstellationen" (Hans Günter Hockerts). Dies gelingt sehr weitgehend, sodass der Band unbestritten "Zeitgeschichte im Gespräch" bietet. So wäre nicht zuletzt zu hoffen, dass auch Entscheider:innen zu ihm greifen. Ein weiterer Vorzug liegt in der Tatsache, dass die Autor:innen nicht das in den Medien allzu häufig bemühte Krisennarrativ bedienen, sondern nüchterne Schilderungen, neue Perspektivierungen und theoriegeleitete Interpretationen anbieten.
Neben der kurzen Einleitung besteht der Band aus sechs thematischen Beiträgen, die verschiedene Dimensionen der Integrationsgeschichte behandeln, und aus drei Gesprächen, die dialogische Zugänge zu ihren Themen eröffnen.
Den Anfang macht ein Gespräch zwischen Florian Greiner und Wolfgang Schmale über "Europa als Idee" in einer Perspektive der langen Dauer. Vor dem Hintergrund einer Forschung, die betont, dass Integrationsideen recht weit in die Vergangenheit zurückreichen, und damit den Zäsurcharakter der Nachkriegszeit aufbricht, ist der Austausch sehr lehrreich. Für den Rezensenten bietet er vielfältige Anknüpfungspunkte für Diskussionen mit Studierenden rund um die Frage, wie Europa als Idee vorgestellt wurde und wird. Bedenkenswert sind vor allem die Passagen zu "Anti-Europa" bzw. den antiliberalen Vorstellungen von Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
In einem zweiten Gespräch diskutieren Brigitte Leucht und Korinna Schönhärl über die Wirtschafts- und Finanzpolitik "als Schlüsselbereiche europäischer Einigung". Sie rücken die Vielzahl von Institutionen und Organisationen in den Mittelpunkt, die auf diesem Feld seit 1945 aktiv waren und sind, erklären aber auch plausibel, warum die heutige EU zum dominanten Akteur wurde. Hier erweist sich das Format für Nichtspezialist:innen als besonders gewinnbringend: Was als klassischer Aufsatz wohl sehr dichtgedrängt dahergekommen wäre, wird hier dynamisch und doch mit viel Sinn für Komplexität und Nuance entwickelt. Dies gilt auch für das dritte Gespräch zwischen Hartmut Kaelble und Heike Wieters über die Rolle der Sozialpolitik, das den spannenden Zusammenhang zwischen dem nationalen und einem transnationalen Rahmen ins Zentrum stellt und deutlich macht, wie viel internationale Geschichte in einem Politikfeld enthalten ist, das für viele immer noch als klassisch nationalstaatlich gilt.
Die Aufsätze stellen sich der Herausforderung, notwendige Sachinformation zu liefern, historische Interpretationsangebote zu machen und aus dieser Perspektive auch gegenwärtige politische Problemlagen zu beleuchten. Kiran Klaus Patel zeigt, wie gerade in den - lange Zeit als eurosklerotisch verschrienen - 1970er Jahren viele Entscheidungen fielen, die für das Verständnis der heutigen EU unabdingbar sind. Dabei geht er der systemischen Relevanz der EG, der verstärkt differenzierten Integration und der Legitimation des Integrationsprozesses nach. Wilfried Loth stellt die Frage nach der "Weltmacht Europa". Hier bleibt - kaum überraschend - aus integrationspolitischer Sicht der Eindruck eines verschenkten Potenzials zurück, von dem man aber auch nicht recht weiß, wie es zu heben sei. Barbara Lipperts souveräner Beitrag zur Erweiterung von EG/EU vor allem seit den 1990er Jahren wertet diese vorsichtig positiv. Anhand von mehr oder weniger realistischen Szenarien zu den jeweiligen Erweiterungen zeigt sie auf, warum es kaum Alternativen zu den beschrittenen Wegen gab, auch wenn der Preis eine zunehmende "Heterogenisierung" auf allen Ebenen war. Katja Seidel widmet sich am Beispiel der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU als Handelsmacht zwischen "Freihandel und Protektionismus". Gerade die protektionistische GAP habe dem Selbstbild der EG/EU als "good global actor" lange im Wege gestanden. Auch nach einer stärkeren Liberalisierung seit den 1990er Jahren gebe es jedoch mit Verbraucher- und Umweltschutz gute Gründe für die andauernde, hohe Subventionierung der Landwirtschaft. Martin Rempe analysiert die Beziehungen von EG/EU zum Globalen Süden anhand verschiedener Abkommen seit den Römischen Verträgen von 1957. Er arbeitet das Fortdauern gewisser kolonialer Elemente, "transformative Aspekte", aber auch das Aufkommen neuer Asymmetrien heraus. Jochen Oltmer widmet sich dem tagespolitisch stark aufgeladenen Thema der Migrationspolitik. Er schildert die Entwicklung von Migrationsregimen in Europa seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis heute. Besondere Aufmerksamkeit richtet er auf die seit den 1980er Jahren zu beobachtende Verknüpfung der Begriffe Globalisierung und Migration. Auch er kommt nicht umhin, eine große Heterogenität der Sichtweisen - gerade in der Asylfrage - auszumachen.
Bei einem solchen Sammelband gibt es unausweichlich Lücken: Der Rezensent hätte sich vor allem einen Beitrag zum geschichtspolitischen Wirken der europäischen Institutionen gewünscht. Gerade entsprechende Resolutionen im Europäischen Parlament böten die Möglichkeit zu einem anderen, erinnerungspolitischen Blick auf die Integration. Mit Blick auf das Ziel des Bandes wäre wohl auch ein eigener Beitrag zur Frage des Demokratiedefizits denkbar gewesen, auch wenn diese sich wie ein (dünner) roter Faden durch die Texte zieht.
Insgesamt ist dem Band jedoch nur zu wünschen, dass er sein selbst gestecktes Ziel erreicht. Ein besser zugängliches Angebot, mit der Geschichte der europäischen Einigung und ihren Herausforderungen ins Gespräch zu kommen, ist kaum zu finden.
Christoph Brüll