Jean-Numa Ducange: La République ensanglantée. Berlin, Vienne : aux sources du nazisme (= Collection Mnémosya), Paris: Armand Colin 2022, 267 S., 14 Farb-, 21 s/w-Abb., ISBN 978-2-200-63177-2, EUR 24,90
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Jean-Numa Ducange lehrt Zeitgeschichte an der Universität Rouen. Als Spezialist für Mitteleuropa, Deutschland und vorrangig Österreich beschäftigt er sich insbesondere mit der Geschichte der Linken seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg. In zahlreichen Veröffentlichungen ist er dabei insbesondere den revolutionären Erschütterungen, staatlichen Neuordnungen und transnationalen Verflechtungen, aber auch den damit verbundenen Nationalitätenproblemen nachgegangen. Zentrales Thema seiner letzten Monografie ist die Mitteleuropa durchziehende revolutionäre Welle von 1918/19, ihr weitgehendes Scheitern und schließlich der Rückschlag in Gestalt der faschistischen Bewegungen und Diktaturen. Diese revolutionäre Welle war das Ergebnis mehrerer Faktoren, die Ducange einleitend kurz skizziert: Die Niederlage der Revolutionäre von 1848 führte schließlich zur Klärung der Hegemonialfrage in Mitteleuropa mit der Herausbildung des kleindeutschen Kaiserreichs unter preußischer Führung und mit der Umbildung der Monarchie in Wien. Die kapitalistische Industriegesellschaft blühte auf, vor allem in Preußen-Deutschland, wesentlich beschränkter in Österreich-Ungarn. Zugleich entwickelte sich in Gestalt der Sozialdemokratie eine scheinbar unaufhaltsame Kraft, welche die kapitalistische Industriegesellschaft zumindest ihrem Programm nach beseitigen wollte. Doch 1918 blieb von diesem revolutionären Ziel nicht mehr viel übrig.
Ausführlich rekapituliert Ducange die Erfahrung mit den Rätebewegungen von Berlin, Wien, München sowie Budapest und umreißt die Faktoren, die ihre Niederlagen bestimmten. Dabei blickt er auch auf tieferliegende kulturelle Determinanten für die gegenrevolutionäre Mobilisierung und benennt Faktoren, die Mentalitäten prägten und denen er ein eigenes Kapitel zur, wie er es nennt, "question d'Orient" (121 f.) gewidmet hat
Ducanges Interpretation ist allerdings nicht unbestritten. Er führt historiografische Bewertungen an, welche die Umbrüche seit 1918 nicht als Revolution charakterisieren wollen und stattdessen die neuen faschistischen Bewegungen als die "eigentliche revolutionäre Kraft" (207 f.) deuten. Deshalb fasst der Autor die Faktoren zusammen, die ihn von einer "verratenen Revolution" (155 f.) nach Ende des Weltkriegs sprechen lassen. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten mobilisierten Kräfte konterrevolutionärer Gewalt gegen die Agitation für die Sozialisierung der Produktionsmittel und die Bildung sozialistisch/kommunistischer Parteien mit revolutionärem Anspruch.
Ein abschließendes Kapitel über die "Relikte" (195 f.) der Revolution behandelt das Jahr 1923 mit dem fehlgeschlagenen Aufstandsversuch der KPD und dem Auslaufen in den Massenparteien der Arbeiterbewegung, wie sie sich zur Mitte der 1920 Jahre in ihren verschiedenen Varianten präsentierten: in der kämpferischen Rhetorik der KPD einerseits, in den friedlichen Aufmärschen und den sie begleitenden Strategie- und Programmdebatten der Sozialdemokratie andererseits, wobei deren Höhepunkt sich für ihn in der Politik des Roten Wien verkörpert. Doch all das blieb mehr passive Beschwörung als Entschlusskraft, wie sich erwies, als das Jahr 1933 allen Bemühungen einen Schlusspunkt setzte. Wie von den Nationalsozialisten selbst angekündigt, ging es um eine Revanche für den November 1918. Was blieb, waren dann nach 1945 die Bemühungen um Kanonisierungen in den verschiedenen Geschichtsbildern in Ost und West, die aber der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg als Bewegung von unten ihren Kern nahmen, wie Ducange ausführt.
Die Darstellung wendet sich an ein breiteres, an den politischen Zusammenhängen interessiertes Publikum. Sie fügt eigene Forschungen des Autors mit umfassender Auswertung der Sekundärliteratur zusammen und kombiniert die Darstellung der Ereignisse mit einem deutenden Essay. Die politische Geschichte wiegt dabei schwerer als der sozioökonomische Rahmen. Zu begrüßen ist der breite Fokus, der von der Fixierung auf die Ereignisse in Berlin Abschied nimmt und Österreich mit einbezieht, was sicher auch der langjährigen Beschäftigung des Autors mit diesem Land und speziell mit dem Austromarxismus geschuldet ist. Hier lässt er seine Sympathien durchblicken, führt aber auch Rosa Luxemburg als Bannerträgerin für die Möglichkeiten der Revolution 1918/19 an.
Dieses solide recherchierte Buch bringt für den Spezialisten, der mit der deutschen Forschungsliteratur vertraut ist, nicht viel Neues. Es ist ja für den französischen Sprachraum verfasst, wo die Kenntnis über die Abläufe nach 1918 in Mitteleuropa, über das Kriegsende hinaus, eher gering ist. Doch mit Ducanges breiter Perspektive, welche die Umstürze von 1918/19 in den langen zeitlichen Ablauf und in ihren situativen Zusammenhang einordnet, kann man es auch in Deutschland und Österreich mit Gewinn lesen.
Reiner Tosstorff