Udo Grashoff: "Die Schlägerei hört einfach nicht auf". Jugendhaus Halle. Gefängnisalltag (1971-1990) (= Edition Zeit-Geschichte(n); Bd. 9), Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2023, 236 S., 32 Farb-, 21 s/w-Abb., ISBN 978-3-96311-788-6, EUR 20,00
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Während bislang vor allem die politischen Gefangenen der DDR untersucht wurden - zuletzt sogar Grenzfälle wie Spione und Deserteure - blieben jugendliche und kriminelle Häftlinge außen vor. In diese Lücke stößt nun Udo Grashoff mit seiner Untersuchung des Jugendhauses Halle. Hier waren zu Zeiten der DDR meist 800 bis 1200 straffällige Jugendliche sowie junge Erwachsene inhaftiert. Überwiegend hatten sie kleinere Delikte aus nicht politischen Motiven verübt, doch auch einige gescheiterte Fluchtwillige saßen hier ein. Andere Gefangene wären in einem Rechtsstaat gar nicht erst "eingefahren", denn die DDR-Justiz ahndete selbst gewöhnliche Delikte streng und verhängte lieber Freiheitsstrafen als Geldstrafen. Durchschnittlich blieben die Insassen so "nur" ein dreiviertel Jahr hier.
Der Autor führte Interviews mit ehemaligen Insassen des Jugendhauses, die meist nicht viel auf dem Kerbholz hatten, beispielsweise ohne Führerschein Auto gefahren waren. Andere hatten aus dem Land zu fliehen versucht. Die Stichprobe ist trotzdem nicht repräsentativ, wie Grashoff einräumt, doch schwere Jungs geben eben ungern Auskunft. Ferner stützt sich der Autor auf die Akten von Gefängnisverwaltung sowie Staatssicherheit und wägt die Quellen sorgsam gegeneiner ab.
Wurde wenigstens die besonders vulnerable Gruppe junger Menschen im Strafvollzug der DDR menschenwürdig behandelt und auf den "rechten Pfad" zurückgeführt? Grashoff verneint dies von Grund auf. Wem die nüchterne Darstellung körperlicher Gewalt schlaflose Nächte bereitet, der legt das Buch besser zur Seite. Dabei wurde das Jugendhaus Halle im Zuge von Liberalisierungstendenzen im Strafvollzug neu gebaut und 1971 eröffnet. Hier sollten ausdrücklich vermeintlich wissenschaftliche Erziehungsmethoden Einzug erhalten, das hatte sich das durchschnittlich 34 Jahre alte Personal vorgenommen. Sogar ein Schwimmbecken war vorgesehen - und man wollte ohne richtige Arrestzelle auskommen.
Doch die altersgemäßen Rangkämpfe der inhaftierten Jugendlichen liefen komplett aus dem Ruder. Es entwickelte sich eine hierarchische Häftlingsgesellschaft, die sich allein auf Faustrecht gründete. Neueingelieferte Gefangene wurden von skrupellosen Funktionshäftlingen ("Chefs") gedemütigt, geschlagen oder gar vergewaltigt ("Eingangsknechtung"). Die "Chefs" zwangen schwächere Insassen dann etwa dazu, ihnen die Zähne zu putzen oder sie sexuell zu befriedigen. Weigerten sie sich, wurden sie oft pervers misshandelt - indem sie Urin trinken oder Waterboarding mit Toilettenwasser ertragen mussten. Nacht für Nacht suchten sich sadistische "Chefs" in den Großraumzellen einen anderen aus, an dessen Flehen und Leiden sie sich ergötzen konnten. Sich zu solidarisieren kam den anderen Mitinsassen nicht in den Sinn - vielmehr waren sie froh, wenn der Kelch der Gewalt an ihnen vorüber ging. So erlebte einer der Zeitzeugen während seiner gesamten Haft "keinen Funken Menschlichkeit".
Die misshandelten Jugendlichen wurden von ihren Peinigern gezwungen zu schweigen und sichtbare Blessuren durch Notlügen zu bemänteln. Die Aufseher gaben sich damit zufrieden und setzten auf die Selbstdisziplinierung der Häftlingsgesellschaft, statt Vorfälle aufwendig zu untersuchen. So wurden Jugendliche, die sich als Gewaltopfer offenbart hatten, wieder in die gleiche Gemeinschaftszelle gesperrt. Und Funktionshäftlinge wurden auf ihren Posten belassen, obwohl sie als Schläger bekannt geworden waren.
Wer unten in der Hierarchie stand, ertrug das Martyrium oft nicht lang - was zu Ausbruchsversuchen und Selbstverletzung beitrug. Ein Betroffener hielt beim Arbeitseinsatz in voller Absicht seine Finger unter eine Stanze, nur um den Misshandlungen der Mitinsassen zu entkommen. Andere wollten lieber gleich aus dem Leben scheiden: allein im Jahr 1983 wurde dies 30 Mal versucht. Im Mai 1980 gelang einem Gefangenen tatsächlich der Suizid. Wer jedoch beim Versuch, Selbstmord zu begehen, scheiterte und dies nicht vertuschen konnte, wurde nicht etwa in die Krankenstation verlegt und einem Psychologen vorgestellt. Mindestens ein Häftling wurde vielmehr von den Aufsehern eine Woche lang an Armen und Beinen gefesselt, formal um einen erneuten Versuch zu verhindern.
So griffen Gewissenlosigkeit der Bewacher und sadistische Gewalt der Jugendlichen verhängnisvoll ineinander. Den Insassen wurde von den Aufsehern täglich militärischer Drill und Unterwürfigkeit abverlangt - was zu Frustrationen und Aggressionen führte, denen sich kaum ein Ventil bot. So wurden die Machtverhältnisse zwischen Aufsehern und Insassen reproduziert: Einige "Chefs" zwangen ihre subalternen Mitinsassen, bei Begegnung auf den Fluren stehen zu bleiben, das Gesicht zur Wand zu drehen und Meldung zu erstatten - und kopierten damit exakt das Regime der Aufseher in der U-Haft bzw. im Strafvollzug.
Zwar bemühte sich die Gefängnisleitung teilweise, die Misshandlungen einzudämmen: durch bessere Verteilung der Insassen auf die Zellen, je nach Alter und Bildung, sowie strengere Auswahl der Funktionshäftlinge. Doch letztlich verpuffte all dies; erst 1984 ließ die Staatssicherheit den Gefängnisleiter sowie einen brutalen Aufseher ablösen. Der neue Leiter ging konsequenter gegen Übergriffe jeder Art vor und erzielte gewisse Erfolge.
Weit stärker als bei der Resozialisation von Straftätern in einem Rechtsstaat war in der DDR deren Umerziehung (zu "sozialistischen Persönlichkeiten") weltanschaulich dringend erwünscht. Doch dieser Anspruch scheiterte krachend an der Wirklichkeit. "Die Realität war weitgehend abgekoppelt von der ideologischen Norm. Der Haftalltag im Jugendgefängnis stand in eklatantem Widerspruch zu fast allem, was die sozialistischen Theoretiker als Wertehorizont vorgegeben hatten", so Grashoff.
Der Autor gliedert seine Studie systematisch nach Häftlingsgesellschaft, Aufsehern und - etwas kryptischen - "Konfliktbereichen". Folglich wird manches Vorkommnis mehrfach dargestellt - und auf einen roten Faden gelegentlich verzichtet. So werden etwa die Psychotherapien misshandelter Insassen nach 1989 im Kapitel über die Häftlingsgesellschaft statt im Kontext der Spätfolgen behandelt. Auch hätte man die Motive der gewalttätigen Jugendlichen gerne besser verstanden, doch wären so die Grenzen der Fachdisziplin wohl gesprengt worden. Literatur, Quellen und Interviews sind nicht gesondert verzeichnet.
Der Autor versucht glücklicherweise nicht, seine überwiegend kleinkriminellen Häftlinge zu politischen Gefangenen aufzuwerten. Die Relevanz seiner Untersuchung liegt ohnehin mehr in der schonungslosen Diagnose des Komplettversagen eines expliziten Erziehungsstrafvollzugs. Auch vielen kriminellen jugendlichen Gefangenen geschah in der DDR schweres Unrecht, da ihre Menschenrechte während der Haft buchstäblich mit Füßen getreten wurden.
Tobias Wunschik