Michael Loy: Connecting Communities in Archaic Greece. Exploring Economic and Political Networks through Data Modelling (= British School at Athens Studies in Greek Antiquity), Cambridge: Cambridge University Press 2023, XVII + 331 S., 40 Farb-, 35 s/w-Abb., ISBN 978-1-009-34381-7, GBP 100,00
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In der in Cambridge verfassten Dissertation will Loy die Möglichkeiten einer computergestützten Analyse archäologischer Daten dazu nützen, um die Existenz verschiedener Netzwerke in der Ägäis im Zeitraum zwischen 700 und 500 v. Chr. aufzuzeigen. Dafür nützt er die "Social Network Analysis" als heuristisches Mittel, wonach die Feststellung, wo Objekte produziert, auf welchen Wegen sie transportiert und wo sie konsumiert wurden, erlaubt, die Orte als Knotenpunkte (nodes), die Transportwege, die bis an die Ränder (edges) des Netzwerkes führe können, als Verbindungen (ties) zwischen diesen zu definieren. Archäologische Objekte müssen für diese Art von Analyse zuerst in einer Datenbank erfasst werden. Zu diesem Zweck werden Kategorien gebildet, in denen in der archäologischen Praxis unterschiedlich bezeichnete Objekte einer einzigen Kategorie zugeordnet werden. Die vier gewählten Kategorien sind Marmorstatuen, Keramik, Münzen, Inschriften.
Dieser Vorgang wird in der ausführlichen Einleitung vorgestellt und dabei auch die Frage der Repräsentativität der Objekte so beantwortet, dass für den Zeitraum 700-500 v. Chr. ausreichend Daten vorhanden seien, um Unebenheiten in der Befundlage der Ägäis auszugleichen. Daran schließt sich die für die Methode grundlegende Prämisse an, dass Objekte als Indikatoren für die Aktivitäten von Individuen oder auch ganzen Gruppen im Sinn von Interaktionen zwischen beiden gelten dürfen. Ähnliche Objekte entsprechen demnach ähnlichen menschlichen Aktivitäten, die Massierung von Objekten "units of place" bzw. "communities" als "meaningful collectives" (13-15).
Loy leitet aus den Wegen, auf denen Marmorstatuen transportiert wurden, ökonomische Netzwerke ab, also ökonomische Aktivitäten von Personen, von 'Orten' und derartige Prozesse, über die die gesamte Ägäis miteinander verbunden wurde. Es handle sich um ein Netzwerk von Ankerplätzen beruhend auf vier von den Kykladen (Naxos, Paros) ausgehenden Routen, die als "corridors of probability" bezeichnet werden. Zugegebenermaßen stimmen diese Wege durch die Ägäis mit denen überein, die aufgrund der Möglichkeiten der antiken Schifffahrt schon bisher angenommen wurden. Interessant sind die parallel dazu angestellten Überlegungen über die für die Produktion der Statuen aufgewendeten Arbeitsstunden und zur möglichen, in dem gewählten Zeitraum transportierten Gesamttonnage, unter der Annahme, dass nur 1 % der produzierten Statuen uns überhaupt bekannt sind.
Die so eruierten Verbindungen sollen durch ihre Parallelisierung mit den Transportwegen der Keramik weiter an Wahrscheinlichkeit gewinnen, weil Schiffe in der Antike immer eine gemischte Ladung transportierten. Es wird davon ausgegangen, dass die Produzenten über die Bedürfnisse der jeweiligen Konsumenten Bescheid wussten und sie gemeinsam ökonomisch fundierte Netzwerke bildeten. Doch ist dieses Postulat angesichts unterschiedlicher Gebrauchsformen der verschiedenen Keramikformen innerhalb der zwei unterschiedenen 'Zielpunkte', urbane Kontexte und Heiligtümer und der jeweiligen lokalen Keramik nur schwer darauf zu reduzieren. Dennoch werden die Netzwerke der Marmorstatuen gemeinsam mit jenen der Keramik als Beleg für eine schon in der Archaik beginnende Marktökonomie gehalten.
Die über die Verteilung der Münzen ausgemachten Netzwerke stellen die Verbindung zwischen dem postulierten ökonomischen und neu ins Spiel gebrachten politischen Netzwerken dar. Anders als bei Marmorstatuen und Keramik wird bei den über Gewicht und Bildnis zu unterscheidenden Münzprägungen auf deren gleichzeitige ökonomische und kulturelle Bedeutung verwiesen. Deshalb seien dafür auch unterschiedliche interpretative Rahmen anzulegen. Diese Unterscheidung spielt jedoch für die Nachzeichnung der im Ablauf des 6. Jahrhunderts größer werdenden Münz-Netzwerke keine erkennbare Rolle. Die am Beginn des Jahrhunderts auf der Basis der Gewichtsstandards unterschiedenen fünf Netzwerke veränderten sich aufgrund der steigenden Zahl der Münzen prägenden Städte in der Mitte des Jahrhunderts in der Weise, dass der äginetische, phokäische und milesische Standard miteinander verzahnt wurden, neben denen aber noch weitere wie das attisch-böotische Netzwerk existierten. Am Ende des Jahrhunderts hätten sich innerhalb der Ägäis eine östliche und eine westliche Großzone ausgebildet, aber zudem davon unabhängig prägende Städte und solche, die mit Regionen außerhalb der Ägäis in Verbindung standen. Das Netzwerk der Münzen wird dann mit dem der Keramik parallelisiert und beide zusammen als Teil desselben ökonomischen Systems und eben nicht als politisch fundiert interpretiert.
Als Merkmale zur Charakterisierung von Schrift bzw. der Alphabete wird der jeweilige Gebrauch von Aspiranten, Sibilanten, langen Vokalen, des Iota und von Zusatzbuchstaben herangezogen. Die jeweils getroffene Wahl wird als Ausdruck kollektiver Identität, aber auch politischer Zugehörigkeit interpretiert. Auch wenn die Qualität der Datensets wegen der nur selten einigermaßen exakt datierbaren Inschriften zugegebenermaßen als diskutierbar eingeschätzt wird, zudem eine starke Veränderung und regionale Spezifiken erkennbar sind, werden über die Annahme der direkten Deckung der Inschriften mit der am Fundort lebenden Bevölkerung drei große und weitere kleinere, am Ende des 6. Jahrhunderts vier Cluster voneinander unterschieden. Da sich jedoch z.B. in Ionien der Cluster anders als in Attika nicht mit den politischen Verbindungen deckt, wird als Grundlage für die Interpretation die Kenntnis des jeweiligen Kontextes verlangt.
Eben auf solche Kontexte wird im letzten Kapitel Bezug genommen. Den Ausgangspunkt stellt hier die Überlegung dar, dass jedes Objekt nicht nur in eines, sondern in mehrere Netzwerke eingebunden ist und nach der Grundprämisse der Deckung von Objekt und Person deshalb auch die Aktivitäten der gesamten Gemeinschaft in sich trägt. Doch übertragen auf den ionischen Bund scheitert diese Annahme, weil die ionischen Städte zwar eine ähnliche Keramik benützten, aber unterschiedliche Münzen prägten. Deshalb müsse erwogen werden, dass die aus der schriftlichen Überlieferung abgeleitete politische Verbindung der ionischen Städte eine Rückprojektion aus dem 5. Jahrhundert sei. Das Umgekehrte habe wegen der gemeinsamen Münzen und Keramik für Rhodos zu gelten, obwohl die drei dominierenden Poleis selbständig agierten. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass die ökonomischen Netzwerke unabhängig von den politischen funktionierten.
In der knappen Conclusio ist auch das Eingeständnis formuliert, dass das, was über die Netzwerkanalyse erfassbar ist, in seinen Grundzügen schon mit den 'traditionellen' Methoden eruiert worden sei. Dennoch wird der computergestützten Netzwerkanalyse ein großes Potential bescheinigt. Dieser Optimismus verdeckt, dass zwar für die offen angesprochenen Probleme der Datenauswertung explizit als provisorisch bezeichnete Lösungen angeboten werden, nicht jedoch die grundlegende Frage der Gleichsetzung von Objekten und handelnden Personen behandelt wird. Die Netzwerkanalyse wird als ein auf "statistical tests" beruhendes "'etic' tool" (12) angeboten, das hilft, gleichzeitig vorhandene Beziehungen zu visualisieren und so die Struktur zu erforschen, die den Netzwerken zugrundeliegenden Interaktionen übergeordnet ist. Von den Kritikpunkten, die gegenüber dieser schon seit einiger Zeit propagierten Methode erhoben wurden, seien nur einige wichtig erscheinende kurz umrissen.
Das Grundproblem besteht in dem Schritt von einer rein formal-quantitativen Analyse von Objekten zu den Motiven und Zielen von Individuen und Gruppen von Individuen. Das Problem der Bildung eines Sets aus Objekten und seiner Repräsentativität wird nur mit dem formalen Argument der Menge der Daten relativiert, die Daten werden aber ausschließlich von Küstenorten innerhalb der Ägäis gewonnen (288). Ein anderes Problem besteht darin, welches Modell für die Interpretation der Daten als das 'richtige' erachtet wird. So wird für die Darstellung der Relation zwischen den in nur verhältnismäßig geringer Zahl vorhandenen Inschriften und der Bevölkerung ein Algorithmus mit "three different resolution values" (208) in Erwägung gezogen. Das Problem der Identifikation von quantitativer mit qualitativer Methode zeigt sich auch darin, dass die Bedeutung von Dingen einerseits (nur) aus deren Bewegung ermittelt werden soll, andererseits für die Archaik sowohl unterschiedliche politische und ökonomische Strukturen und gleichzeitig auch "somewhat roughly equivalent autonomous political units" (17) angenommen werden. Diese Auffassung beruht auf der wiederkehrenden - die aktuelle Diskussion über die griechische Archaik extrem verkürzende - Bezugnahme auf das "Peer Polity"-Konzept mit seiner kaum definierten Elite - verbunden mit einer schroffen Zurückweisung der von M. Finley vertretenen Heranziehung anthropologischer Analogien. So bleibt bei allem Engagement des Autors beim Leser die Überzeugung zurück, dass Big Data und deren Analyse beim Verständnis der vielfältigen Vergangenheiten zwar zu mancher Fragestellung führen können, aber nicht die Analyse der gesellschaftlichen Formationen mit all ihren Facetten, innerhalb derer Menschen ihre Verhältnisse zueinander gestalteten, ersetzen können.
Christoph Ulf