Alfons Kenkmann / Martin Liepach / Dirk Sadowski (Hgg.): Integration durch Geschichte? Werkstattberichte und Analysen zu den Orientierungskursen für Zugewanderte und Geflüchtete (= Eckert. Expertise; Bd. 11), 2., korrigierte Auflage, Göttingen: V&R unipress 2024, 163 S., ISBN 978-3-8471-1750-6, EUR 30,00
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Martin Liepach / Wolfgang Geiger: Fragen an die jüdische Geschichte. Darstellungen und didaktische Herausforderungen, 2. Auflage, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2024
Dirk Sadowski: Haskala und Lebenswelt. Herz Homberg und die jüdischen deutschen Schulen in Galizien 1782-1806, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010
Martin Liepach / Dirk Sadowski (Hgg.): Jüdische Geschichte im Schulbuch. Eine Bestandsaufnahme anhand aktueller Lehrwerke, Göttingen: V&R unipress 2014
Orientierungskurse sind neben Sprachkursen ein verpflichtender Teil des Angebots des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), mit dem der deutsche Staat "die Werte der Bundesrepublik Deutschland und die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Religionsfreiheit" [1] an Zugewanderte vermitteln will. Für den Sprachkurs sind 600 Unterrichtsstunden vorgesehen, für den anschließenden Orientierungskurs sind es 100 Stunden. Die hier zur Besprechung vorliegende Studie befasst sich in Form von "Analysen und Werkstattberichten" (11) mit der fachlich-didaktischen Qualität der Orientierungskurse. Die Herausgeber sind Mitglieder der Arbeitsgruppe Geschichte der Deutsch-Israelischen Schulbuchkommission (DISBK). Demgemäß ist es naheliegend, dass sich das Interesse auf die Fokusthemen der DISBK richtet: "Israel und der Nahostkonflikt, deutsch-israelisches Verhältnis, Judentum, Antisemitismus, Nationalsozialismus und Holocaust sowie Erinnerungskultur." (9) Diese Themenpalette korrespondiert mit dem Diskurs darüber, ob und in welchem Ausmaß nach Deutschland Flüchtende antisemitische Einstellungen ihrer Herkunftsländer mitbringen. In die Untersuchung einbezogen wurden Kurslehrbücher der Orientierungskurse sowie deren Zusatzmaterialien. Zuständig waren hierfür Alfons Kenkmann, Martin Liepach, Sophia Tölle und David Beck. In 16 Leitfadeninterviews und verschiedenen Unterrichtsbeobachtungen haben Sophia Tölle, Antje Thul und Karina Korneli die Kursrealität untersucht. Die wissenschaftliche Koordination lag bei Dirk Sadowski (Leibniz Institut für Bildungsmedien / Georg-Eckert-Institut). Von letztgenannter Einrichtung war zudem Matthias Springborn in das Projekt involviert. Zu den Themen der Untersuchung gehören die Inhalte und deren Vermittlung samt der "integrations- und erinnerungspolitischen Ziele" (10). Untersucht wurde auch, ob "didaktische und psychologische Kriterien berücksichtigt" (10) werden. Gefragt wurde weiterhin nach eventuell auftauchenden Widerständen, Vorurteilen und Ressentiments als Reaktion auf die Angebote sowie nach dem Umgang der Lehrkräfte mit den zu vermittelnden Inhalten und gegebenenfalls auftretenden Blockaden bei den Teilnehmenden. Der 163-seitige Band ist in fünf Teile gegliedert. Ein ausführlicher Aufsatz von Kenkmann, Liepach und Sadowski leitet in die Studie ein, stellt die Rahmung der Orientierungskurse vor und geht auf geschichtsdidaktische sowie auf politische Problemstellungen im Aufbau der Kurse ein. Der Einleitung folgt ein Bericht von Tölle über die zur Verwendung kommenden Lehrwerke, eine Auswertung der oben erwähnten Leitfadeninterviews durch Thul und Tölle, an die sich Kornelis Werkstattbericht über die Thematisierung der NS-Herrschaft in den Kursen anschließt. Abschließend geht Tölle auf Unterrichtsbeobachtungen zum Umgang mit Nationalsozialismus und Holocaust innerhalb eines Orientierungskurses ein.
In der Einleitung heben die Herausgeber hervor, dass das grundsätzliche Problem der Orientierungskurse ihre "Doppelnatur" (13) ist. Das Ziel der Vorbereitung der Teilnehmer*innen ist der Erwerb eines Zertifikats mittels eines Multiple Choice-Tests, an das wiederum der Aufenthaltstitel geknüpft sein kann. Damit wird die "rudimentäre Vermittlung demokratischer Werte und historisch-politischer Zusammenhänge" (13) an ein repressives Moment geknüpft. Abgesehen davon ist es für den Rezensenten fraglich, inwieweit es sinnvoll ist, Menschen, die aufgrund von Flucht- und anderen Erfahrungen traumatisiert sein dürften, in dieser Form die Werte und die Geschichte der deutschen Gesellschaft nahezubringen. Hinzu kommt, so die Herausgeber, dass die von den unterschiedlichen Trägern der Integrationsmaßnahme eingesetzten Lehrkräfte im Bereich Deutsch als Fremdsprache beziehungsweise Deutsch als Zweitsprache ausgebildet sind. Damit sind sie fachlich für den Sprachkurs qualifiziert, nicht jedoch für den Orientierungskurs, der eine geschichtsdidaktische Vorbildung abverlangt (17). In der Regel sind die Beschäftigungsverhältnisse auf Honorarbasis prekär. Sowohl in Richtung der Lehrpersonen als auch auf der curricularen Ebene sowie bei den fünf durch das BAMF für die Orientierungskurse zugelassenen Lehrwerken zeigt sich, dass geschichtsdidaktische Prinzipien wie Multiperspektivität, Kontroversität oder Gegenwartsbezug nicht immer berücksichtigt werden. Für die Lehrwerke ergibt sich der Eindruck, dass manche Problematiken aus Schulgeschichtsbüchern reproduziert werden. So findet Tölle in ihrer Untersuchung der Lehrwerke beispielsweise heraus, dass "das Judentum nicht als integraler Teil der deutschen Geschichte und Kultur gezeigt" (42), wird, beziehungsweise es für die Konstruktion eines positiven Deutschlandbildes instrumentalisiert wird. Antisemitismus wird nur in der historischen Dimension des Nationalsozialismus aufgegriffen, nicht jedoch als gegenwärtiges gesellschaftliches Problemfeld.
Auf Seiten der Lehrkräfte machen Thul und Tölle teilweise "Unwissen bzw. falsches Wissen über das Judentum" (65) und eine Reduktion auf dessen religiösen Aspekt aus. Auch das Erkennen von nicht nur vereinzelt auftauchenden antisemitischen Äußerungen erscheint Thul und Tölle zufolge aufgrund fehlenden Problembewusstseins und mangelndem Wissen defizitär. Problematisch ist hier, dass die Arbeitsdefinition Antisemitismus der International Holocaust Alliance (IHRA) als Norm angelegt wird (77; 81), ohne sie weiter auszuführen. Aufgrund der seit Jahren scharf ausgetragenen Streitigkeiten um die Triftigkeit von Antisemitismusdefinitionen wäre hier eine Begründung für die Verwendung der IHRA-Definition wünschenswert gewesen, wenn nicht eine ausführlichere Reflexion von Stärken und Schwächen einzelner definitorischer Ansätze wie sie etwa Klaus Holz [2] nachweist.
Im Rahmen der Unterrichtsbeobachtungen verweist Korneli auf "das große Potential von Gedenkortbesuchen" (136) mitsamt deren methodisch-fachlicher Expertise für die Erinnerungsarbeit. Die Einbeziehung dieser Orte stößt jedoch in der Praxis an organisatorische Grenzen. Die Unterrichtsbeobachtungen zeigen, dass einer versierten Lehrkraft fachliche Fehler unterlaufen können, etwa eine Exkulpierung der deutschen NS-Gesellschaft, wo dies durch eine Vorlage des autorisierten Lehrmaterials nahegelegt wird. Daher ist Tölles Anregung für zusätzliche Fortbildungsmöglichkeiten der Lehrenden zum "Erkennen und Abbauen von problematischen Narrativen und Stereotypen" (158) nachvollziehbar. Sie stößt sich allerdings am prekären Status der Lehrer*innen.
Die vorliegende wissenschaftliche Analyse der Orientierungskurse zeigt, dass sich in der Gesamtschau die einzelnen Problemfelder zu einem systemischen Gesamtproblem summieren. Anders ausgedrückt stehen politische Vorgaben eines bestimmten normativen Integrationsansatzes der Orientierungskurse über fachlich-didaktischen und wissenschaftlichen Prinzipien.
Anmerkungen:
[1] BAMF: Dossier: Integrationskurse. 02.10.2019 unter https://www.bamf.de/SharedDocs/Dossiers/DE/Integration/integrationskurse-im-fokus.html?nn=284228&cms_pos=10 (eingesehen: 03.11.2024).
[2] Klaus Holz: Definitionen von Antisemitismus. Bundeszentrale für politische Bildung. 25.10.2024 unter https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/555654/definitionen-von-antisemitismus/ (eingesehen: 03.11.2024).
Ingolf Seidel