Boris Lurie: In Riga. Aufzeichnungen. Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Vorwort von Joachim Kalka, Göttingen: Wallstein 2023, 224 S., ISBN 978-3-8353-5355-8, EUR 23,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
In Riga von Boris Lurie ist ein Stück "Arbeit" - für den Verfasser wie für Außenstehende. Inhaltlich ist das Werk schnell umrissen: Der gebürtige Rigaer Jude Lurie, der seit 1946 in New York lebt ("Und so war ich in meinem schwachen, holocaustgeprägten, KZ-drangsalierten einundzwanzigjährigen Babybewußtsein jetzt ein hundertprozentiger Amerikaner", 223), reist im Jahr 1975 nach Riga, um sich den Erinnerungen an die Zeit seiner Kindheit und Jugend unter nationalsozialistischer Gewaltherrschaft zu stellen. Die Nationalsozialisten ermordeten im Massaker von Rumbula, einem Waldstück bei Riga, fast seine gesamte Familie sowie seine Geliebte Ljuba; nur er und sein Vater überlebten den Holocaust im Ghetto von Riga und in weiteren Arbeitslagern.
Luries Aufzeichnungen stammen aus den Jahren 1975-1977 und erschienen zunächst 2019, herausgegeben von Julia Kissina, auf Englisch. [1] Insgesamt ist das Werk bruchstückhaft und in viele kurze Kapitel unterteilt; es gibt Wiederholungen, Neuansätze, Zeitbrüche und -sprünge. Übersetzer Joachim Kalka bezeichnet In Riga in seinem Vorwort als "Meditation über Gedächtnis, Verlust, Heimkehr, das Grauen der Geschichte" (5). In seiner Vorbemerkung erfahren wir außerdem, dass das Buch bereits in seiner englischsprachigen Fassung ein Produkt posthumer editorischer Bearbeitung durch Kissina war; es handelt sich also um keine vom Verfasser autorisierte Fassung. Dass die Veröffentlichung dennoch in Luries Sinne gewesen wäre, belegt seine folgende Aussage, bei der er die Rolle einer distanzierten dritten Person einnimmt: "Diese Niederschrift muß hinaus. [...] Der Autor läßt die Wörter nicht hinausgehen, um sich von einer Last zu erleichtern. Obwohl er eine vage Hoffnung hat, daß so etwas eintreten könnte, glaubt er nicht wirklich daran. Er ist sich eher der fast gewissen Tatsache bewußt, daß dann, wenn dieses Zeug draußen ist, sein Leben ganz anders sein wird, sehr viel weniger aufregend, keine große Herausforderung mehr" (213).
Konventionelle Formen der Erinnerung weist Lurie zurück: etwa das Gedenken der Deutsch-Jüdischen Gesellschaft der Überlebenden des Rigaer Ghettos, die sich "mit Gemütlichkeit beschäftigt - Kaffee und Kuchen, Feiertagstreffen, Begrüßungen von Überlebenden, die New York besuchen, und wohltätige Aktivitäten in Israel." Oder eine gesonderte Organisation lettischer Juden, die es - mit einer Jahr für Jahr schwindenden Zahl von Mitgliedern - bei jährlichen herzzerreißenden Gedenkfeiern in der Synagoge belässt (191). Der Verfasser schreibt auch mittels Zynismen gegen das "leere Erinnern" an: "Konzentrationslager scheinen im Kino en vogue zu sein, man denke nur an Der Nachtportier oder Sieben Schönheiten. Nach dreißig Jahren ist das KZ jetzt künstlerische Avantgarde!" (118).
Durchgehend präsent ist der Gedanke der Schuld: das Schuldgefühl, überlebt zu haben ("Wäre ich dann auch in der Lage, meine eigene Mutter und Schwester zu erschießen? Es tut nichts zur Sache, denn tatsächlich habe ich sie bereits erschossen, lediglich dadurch, daß ich am Leben geblieben bin", 150), aber auch - irritierend - die Schuld der Toten: "Die Deutschen fingen an, die Gräber zu öffnen und die Überreste zu verbrennen. Das geschah durch jüdische Arbeitstrupps, die aneinandergekettet waren. Wenn sie sich nicht infizierten und starben, wurden sie nach Beendigung ihrer Arbeit erschossen. Als wir dies hörten, mochten wir die Toten nicht. Wir hatten das Gefühl, die Toten hätten uns eine Rechnung überreicht, die wir nun zahlen müßten [...]. Wir mochten unsere Mütter, Schwestern und Geliebten in Rumbula nicht" (129 folgend).
Das Gedenken an die Wälder von Rumbula, wo Ende 1941 an zwei Tagen über 26 000 Juden ermordet wurden, ist auch ein Nachkriegspolitikum: Ein allzu kleines Schild erinnerte 1975 an die dort umgekommenen Juden - etwas anderes lag nicht im ideologischen Interesse der Sowjetunion. Nach New York zurückgekehrt, konstatiert Lurie: "Nun, seit meinem Besuch gibt es dieses Riga nicht mehr. [...] Es ist, als wäre ein opulenter menschlicher Körper von kräftiger Form ausgeblutet worden, so daß nur noch ein magerer, kaum mehr lebendiger Leichnam zurückbleibt - das ist das Riga jetzt in meinem Kopf" (167).
Und doch konfrontiert er sich noch einmal in ultimativer Weise mit dem Tod Ljubas: "Wie kam sie an ihr Ende? Berichte es Schritt für Schritt. Sie ist nackt dort, nackt mit all den anderen Frauen. Sie muß gezittert haben an diesem entsetzlich kalten ACHTEN DEZEMBER, barfuß natürlich im Schnee. [...] Fiel sie, Gesicht nach unten, auf die anderen in dem Grab? All dieses nackte weibliche Fleisch, noch warm [...]. Meine betäubte Anziehung durch die Kunst des Striptease in der westlichen Welt, meine Faszination hierdurch hypnotisiert mich wie eine Kobra. Geistige Erleichterung trotz der sexuellen Folter, die große geistige Erleichterung in meinem Kopf. Ich durchlebe noch einmal dem größten Striptease aller Zeiten in Rumbula, nur wußte ich damals nichts davon" (220 folgend).
Schockierende Konfrontationen, etwa von Holocaust und Pornografie, hat Lurie auch als Bildender Künstler angestellt. 1959 gründete er mit befreundeten Künstlern die sog. NO!art-Bewegung, die sich kritisch gegen die Pop-Art und andere Kunstströmungen der Zeit positionierte. Das Jüdische Museum Berlin widmete ihm 2016 unter dem Titel "Keine Kompromisse! " eine Retrospektive. [2]
Boris Lurie überschreitet künstlerisch Grenzen und erzählt Geschichten, die Grenzen überschreiten. Dass er ein psychisch beschädigter Mensch mit einem ausschweifenden Lebensstil war, erfährt man in seinem Buch nur durch eine Nebenbemerkung: "Zu Hause geschieht mir nichts, mein Vater billigt meine Prügeleien, später dann mein Trinken, noch später mein Herumhuren" (182). Das Bruchstückhafte, die Aufteilung in viele kurze Kapitel, scheinen im Endeffekt dem Thema adäquat; einzig sie machen das Lesen erträglich. Als Lesende, Mit-Lebende und Mit-Leidende, nimmt man die "Arbeit" am Buch, gerade weil sie so direkt und unverhohlen ist, als Erfahrung mit.
Anmerkungen:
[1] Boris Lurie: In Riga. A Memoir, hrsg. von Julia Kissina, New York 2019.
[2] Eine Bildauswahl bei: https://www.jmberlin.de/ausstellung-boris-lurie (16.09.2023).
Elisabeth Turvold