Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur, München (C.H. Beck) 2024. ISBN: 978-3-406-81490-7, EUR 26,00.
Warum sollte man ein Buch bewerben, das ohnehin schon seit Monaten auf den Bestsellerlisten steht und in den Auslagen der Buchhandlungen zu sehen ist? Weil es absolut fesselnd geschrieben ist und wie kaum ein anderes Buch der letzten Jahre unter Beweis stellt, dass das wahre Leben die spannendsten Geschichten erzählt. Uwe Wittstock schildert, wie der Amerikaner Varian Fry, unterstützt von einem Netzwerk mutiger Männer und Frauen, nach dem Zusammenbruch Frankreichs 1940 eine schier aussichtslose Unternehmung startet: die Rettung exilierter und geflohener Literaten und Künstler vor dem drohenden Zugriff der nationalsozialistischen Besatzer. Das Buch bietet nicht nur eine minutiöse Rekonstruktion dieser wagemutigen Rettungsaktion, sondern auch einfühlsame literarische Charakterskizzen so namhafter Persönlichkeiten wie Hannah Arendt, Walter Benjamin, Max Ernst, Lion Feuchtwanger, Alma Mahler-Werfel, Heinrich Mann und Anna Seghers. Gleichzeitig dokumentiert es einen unerwarteten Akt der Menschlichkeit an einem absoluten Tiefpunkt europäischer Geschichte.
Julia Torrie: German Soldiers and the Occupation of France, 19401944, Cambridge (Cambridge University Press) 2018. ISBN: 978-1-108-47128-2, Taschenbuchausgabe, EUR 37,49.
Die kanadische Historikerin Julia Torrie hat ein Buch geschrieben, das die deutsche Besatzung in Frankreich aus einer völlig neuen Perspektive betrachtet. Im Zentrum stehen weder die militärischen, noch die politischen und administrativen Dimensionen der Besatzung. Torries Interesse gilt vielmehr dem Alltagsleben der in Frankreich stationierten deutschen Soldaten, das sie über Briefe, Fotoalben und Reiseführer rekonstruiert. Das Resultat ist eine Geschichte, die auf Wahrnehmungen, Emotionen und alltäglichen Praktiken blickt, sich aber nicht darauf beschränkt, sondern stets nach deren enger Verschränkung mit Macht, Gewalt und ökonomischen Dynamiken im Kontext deutscher Besatzungsherrschaft fragt. Das Buch bringt uns also eine andere, geradezu touristische und erschreckend menschliche Seite des Krieges und der Besatzung nahe, ohne das Setting dieses Alltags zu verharmlosen und zu relativieren.
Paul Betts: Ruin und Erneuerung. Die Wiedergeburt der europäischen Zivilisation 1945, Berlin (Propyläen) 2022. ISBN: 978-3-549-10038-7, EUR 39,00.
Seit der Erstveröffentlichung von Eric Hobsbawms Zeitalter der Extreme vor dreißig Jahren sind zahlreiche Gesamtdarstellungen zur Geschichte Europas im 20. Jahrhundert erschienen. Sie alle kontrastieren eine vermeintliche Niedergangsgeschichte vor 1945 mit einer Geschichte des Wiederaufstiegs in der zweiten Jahrhunderthälfte. Dem Titel nach scheint das Buch von Paul Betts dieser klassischen Erzählung nichts Neues hinzuzufügen. Tatsächlich aber erweitert Betts unseren Blick auf die europäische Nachkriegsgeschichte gleich in mehrfacher Hinsicht: indem er neben der westlichen auch die osteuropäische Perspektive stark macht, den globalen Verflechtungen Europas und dem Zerfall der europäischen Imperien einen wichtigen Stellenwert einräumt und den Begriff der 'Zivilisation' nicht nur als hohle Floskel verwendet, sondern selbst zum Gegenstand der Analyse macht. Wer es sich zutraut, sollte allerdings lieber die englische Originalfassung lesen als die bisweilen etwas holprig anmutende deutsche Übersetzung.
Frank Biess: Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 2019. ISBN: 978-3-498-00678-5, EUR 22,00.
Der Anspruch einer Emotionsgeschichte wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten oft formuliert. Nur selten wurde er so originell eingelöst wie von Frank Biess. Zwar mag man sich daran stören, dass die methodische Reflexion des Angstbegriffes eher knapp ausfällt. Dieses Manko wird jedoch kompensiert durch eine Reihe hervorragend recherchierter, souverän kontextualisierter und meisterlich erzählter Fallstudien, die nicht nur Altbekanntes neu perspektivieren, sondern auch auf einige bisher unbekannte Themen aufmerksam machen. Die Betrachtung der Bundesrepublik durch das Prisma der 'German Angst' bietet sicherlich keine völlig neue Deutung bundesdeutscher Nachkriegsgeschichte. Sie setzt jedoch einen anregenden Kontrapunkt zur bisher dominierenden Deutung einer 'geglückte[n] Demokratie' (Edgar Wolfrum) und kann uns helfen, den unerwarteten Bedeutungsgewinn von Angstdiskursen im politischen und gesellschaftlichen Leben unserer Gegenwart besser zu einzuordnen und zu verstehen.
Ludwig Bemelmans: Die Blaue Donau (Hörspiel), Regensburg (LOhrBär-Verlag) 2005. ISBN: 978-3-9809651-8-7, EUR 19,90.
Die Lebensgeschichte von Ludwig Bemelmans könnte selbst aus einem Roman stammen: Der Sohn eines belgischen Malers und einer Regensburger Brauertochter verbrachte seine Kindheit im Habsburgerreich und in Bayern, bevor er 1914 in die USA emigrierte. Vom Tellerwäscher stieg er zu einem erfolgreichen Literaten, Illustrator und Kinderbuchautor auf, schrieb und zeichnete unter anderem für den New Yorker und die Vogue. Von der amerikanischen Öffentlichkeit kaum beachtet wurde hingegen sein 1945 erschienener Roman The Blue Danube - eine fiktive, aber erschreckend realitätsnahe Geschichte über das Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft in der bayerischen Provinzstadt Regensburg. Erst sechs Jahrzehnte später wurde die gleichermaßen humorvolle und groteske wie ernste und scharfsinnige Erzählung ins Deutsche übersetzt zunächst als Hörspiel publiziert. Nur selten liegen Abrechnung und Liebeserklärung so eng beisammen wie bei diesem wundervollen Zeitdokument.