Rezension über:

Anita Krätzner-Ebert: Dimensionen des Verrats. Politische Denunziation in der DDR (= Analysen und Dokumente; Bd. 59), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, 287 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-30214-9, EUR 25,00
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Rezension von:
Stefan Donth
Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Donth: Rezension von: Anita Krätzner-Ebert: Dimensionen des Verrats. Politische Denunziation in der DDR, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 1 [15.01.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/01/38297.html


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Anita Krätzner-Ebert: Dimensionen des Verrats

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Die SED setzte in starkem Maße geheimpolizeiliche Instrumente ein, um ihre Herrschaft in der DDR zu sichern. Zu diesem Zweck hatte sie das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) geschaffen, das darauf angewiesen war, Hinweise aus der Bevölkerung oder Informationen seiner Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) über abweichendes Verhalten in der SED-Diktatur zu erhalten, um auf diese Auskünfte reagieren zu können. Diese Denunziationen erfolgten per Brief, am Telefon oder wurden persönlich in den Dienststellen der Volkspolizei und des MfS vorgetragen. Die meisten Denunziationen fanden allerdings im Rahmen der von der Stasi organisierten Tätigkeit der IM statt.

Anita Krätzner-Ebert legt einen breit fundierten Abriss über eine "qualifizierte historisierte IM-Forschung" (10) vor. Sie hat dazu Stasiunterlagen methodisch erschlossen, bewertet die Tätigkeit der IM differenziert und vermeidet pauschale Urteile. Ihre Leitfrage orientiert sich an der Qualität der Denunziationen, wozu sie ein breites Spektrum von zehn Fallgruppen herausgearbeitet hat und IM typisiert, die mit dem Staatssicherheitsdienst zusammenarbeiteten.

Das MfS erhielt von zwei Kategorien von IM besonders wertvolle Informationen. Das waren zum einen, wie Krätzner-Ebert ausführt, diejenigen IM, die mit hoher Intensität "hauptsächlich einen Auftrag ausführten" (155). Daneben lieferten die "Auswählenden" (166) Berichte, die sich durch einen hohen Informationsgehalt auszeichneten und die aus dem festen Willen heraus verfasst wurden, die Stasi zu unterstützen. Diese IM arbeiteten über längere Zeiträume intensiv mit dem MfS zusammen.

Kaum Erfolg und meist nur einen geringen Nutzen verzeichnete das MfS, wenn es beispielsweise Menschen nach einer "Überrumplung" (146) für eine Mitarbeit gewinnen konnte. Wenig Verwendung fand der Staatssicherheitsdienst für die "Ahnungslosen" (152), die zwar denunzieren wollten, aber letztlich doch wenig wussten. Von den "Oberflächlichen" (163) erhielt das MfS selten nützliche Nachrichten. Es gab auch IM, "die die Lust" (158) verloren. Ihre Bereitschaft, zu denunzieren, ließ schnell nach, obwohl das MfS die Zusammenarbeit fortsetzen wollte. Die "Wahllosen" (168) verfügten meist über einen niedrigen Bildungsgrad und überschütteten die Stasi mit einer Flut an Informationen unterschiedlicher Qualität. Ähnlich agierten, allerdings seltener, "IM, die jeden denunzierten" (170).

Und nicht zuletzt benennt die Autorin zwei Kategorien von IM, die dem MfS distanziert gegenüberstanden. Die "Bedenkenträger" (149) standen dem sozialistischen System distanziert gegenüber und entzogen sich schnell einer Berichtstätigkeit. Das MfS beobachtete auch "IM, die nicht denunzierten" (142). Sie schrieben trotz einer Verpflichtung keine Berichte und arbeiteten der Stasi nicht zu.

Darüber hinaus untersucht die Autorin die sozialen Kontexte, in denen denunziert wurde. Das MfS versuchte, bei der Überwachung von Personen Hinweise aus deren Freundeskreisen zu erhalten. Dabei fiel es der Geheimpolizei offensichtlich schwer, die wahren Freunde zu Denunziationen zu bewegen, so dass die Stasi gezielt IM in den Kreis einschleusen oder versuchen musste, Freunde umzudrehen. Im Familienkreis waren viele IM überzeugt, zum Wohle der Angehörigen zu handeln. Es ist ein wichtiges Ergebnis der Studie, dass Denunziationen trotz großer Anstrengungen der Stasi eben nicht vermehrt aus dem engsten persönlichen Kreis der Betroffenen kamen, sondern eher aus dem beruflichen Umfeld oder der Nachbarschaft.

Aus den Quellen sind die Beweggründe derjenigen IM, die Informationen an das MfS weitergaben, schwer zu erschließen. Der Autorin gelingt es, aus den schriftlichen Hinterlassenschaften des MfS mehrere Motive für den Verrat herauszufiltern, die die Denunzianten selbst geäußert hatten. Wie die Führungsoffiziere festhielten, empörten sich viele Spitzel über die denunzierten Sachverhalte oder äußerten sogar, ihr Vorgehen sei politisch notwendig. Das MfS beobachtete auch Rache, Neid und Eifersucht als Motive für eine Denunziation. Vielfach registrierte der Staatssicherheitsdienst auch, dass IM sich davor fürchteten, aufgrund nicht gemeldeter Kontakte Dritter in den Westen oder bei einer Mitwisserschaft insbesondere beim Straftatbestand Republikflucht - hier ging es bereits um den bloßen Verdacht, um Kenntnisse von Planungen oder Versuchen - drangsaliert und bestraft zu werden.

Viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger spürten die Dimensionen des Überwachungsstaates bis in ihren Alltag hinein. Die SED profitierte davon, wenn dem MfS in der Bevölkerung oft eine vermeintliche Allwissenheit zugeschrieben wurde, von der die Stasi allerdings, wie wir heute wissen, weit entfernt war. Für die Herrschaftssicherung der SED-Diktatur genügte es aber oft schon, dass viele Menschen befürchteten, aus politischen Gründen denunziert zu werden. Dieses Klima erhöhte den Druck, sich an die Vorgaben der SED anzupassen.

Nur wenige Zuträger des Staatssicherheitsdienstes mussten nach 1990 mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen: Die Autorin verweist auf die seltenen Gerichtsprozesse, die wegen einer Denunziation geführt wurden. Seit 1989 fanden lediglich elf Verfahren statt, davon eines gegen einen Bundesbürger. Nur fünf Personen wurden rechtskräftig zu Bewährungsstrafen verurteilt. Sechs Angeklagte wurden von den Gerichten freigesprochen. Auch aufgrund dieser sehr geringen Zahl von Verurteilungen bleibt die juristische Aufarbeitung des Verrats weit hinter den Erwartungen vieler Opfer der SED-Diktatur zurück.

Die Studie erweitert unseren Kenntnisstand über politische Denunziationen in der DDR beträchtlich. Die Autorin hat nicht nur eine beachtenswerte Grundlagenforschung vorgelegt, sondern gibt auch wichtige Anstöße für zukünftige Untersuchungen. Jetzt müssen sich weitere Arbeiten der Frage zuwenden, wie das MfS die aus den Denunziationen gewonnene Informationsflut verarbeitet und für seine Repressionsmaßnahmen genutzt hat. Und nicht zuletzt lassen sich künftig - fundierter, als es bisher möglich war - Denunziationen während der beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts miteinander vergleichen.

Stefan Donth