Rezension über:

Anne-Christine Hamel: Die Deutsche Jugend des Ostens. Interessenpolitik junger Vertriebener im Spannungsfeld von Heimat, kultureller Identität und Integration (= Jugendbewegung und Jugendkulturen. Schriften; Bd. 21), Göttingen: V&R unipress 2024, 1008 S., ISBN 978-3-8471-1655-4, EUR 140,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Barbara Stambolis
Münster
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Barbara Stambolis: Rezension von: Anne-Christine Hamel: Die Deutsche Jugend des Ostens. Interessenpolitik junger Vertriebener im Spannungsfeld von Heimat, kultureller Identität und Integration, Göttingen: V&R unipress 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 1 [15.01.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/01/39803.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Anne-Christine Hamel: Die Deutsche Jugend des Ostens

Textgröße: A A A

Die vorliegende Studie widmet sich der Geschichte des Zusammenschlusses "junger Vertriebener aus den ehemaligen deutschen Ost- und Siedlungsgebieten innerhalb der Bundesrepublik Deutschland" (15), der Deutschen Jugend des Ostens (DJO). Im Jahr 1951 gegründet, hatte die DJO um 1960 rund 150.000 Mitglieder, sie war damit nach der Sportjugend, katholischen und evangelischen Jugendverbänden, der Gewerkschafts- und der Landjugend der sechststärkste Jugendverband der Bundesrepublik (16). Zurecht stellt Anne-Christine Hamel fest, dass bislang überraschend wenig über die DJO bekannt ist. Über jugendliche Vertriebene sei insgesamt gesehen nicht hinreichend intensiv geforscht worden.

Die zahlenmäßige Stärke dieses Verbandes ist nicht der Hauptgrund dafür, sich mit der DJO wissenschaftlich befassen. Vor allem eröffnet diese anspruchsvolle Studie spannende Perspektiven auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es geht der Autorin um Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen sowie politischen Veränderungen und dem Wandel von Zielsetzungen und Wertorientierungen der DJO über mehrere Jahrzehnte hinweg. In der Kritik stand sie seit den 1960er Jahren in mehrfacher Hinsicht: Im Deutschen Bundesjugendring, der Dachorganisation der Jugendverbände, drohte ihr zeitweise der Ausschluss und damit die Streichung von Fördermitteln. Einige Mitglieder standen wegen ihrer politischen Haltung öffentlich massiv in der Kritik. Die DJO war eine "umstrittene" und mit Blick auf langsam sich vollziehende Prozesse des Umdenkens demokratiegeschichtlich interessante Organisation. [1]

Unter dem Dach dieses Verbandes kamen Menschen mit höchst unterschiedlichen Interessen zusammen. Ihre Herkunft war ebenso heterogen wie die landsmannschaftlichen Vertriebenen-Gruppierungen, denen sie sich verbunden fühlten. Die Autorin definiert (Kapitel I) die DJO einleuchtend als "Meta-Organisation der jungen Vertriebenen", deren Mitgliedschaft sich "durch Freiwilligkeit, untereinander herrschende Gleichberechtigung sowie einen eigenen Handlungsspielraum" auszeichne, "der den einzelnen Gliederungen gegenüber der Meta-Organisation eine gewisse Autonomie" ermögliche. Hamel beruft sich auf einen methodischen Ansatz der schwedischen Soziologen Göran Ahrne und Nils Brunsson (65). [2] Spannungen und Konflikte würden in diesem Modell, so Hamel weiter, in einer Weise berücksichtigt, die den "komplexen Strukturen der DJO" angemessen seien und sich als ausgesprochen "erkenntnisfördernd" erwiesen (65).

Die Autorin betont einleitend (Kapitel I) die gesellschaftliche Relevanz des Untersuchungsfeldes. Sie stellt Facetten desselben unter Einbeziehung umfänglicher Fachliteratur aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen vor. Sie gibt Auskunft über das ausgewertete Archivmaterial und die geführten Zeitzeugeninterviews. Hamel erläutert wichtige, häufig gebrauchte Stichworte wie "Erlebnisgeneration" "Nachgeborene", "Integration" oder "Heimat". Sie entwickelt facettenreiche Perspektiven auf den Forschungsgegenstand. Die zentrale Frage, die es zu beantworten gilt, lautet: Unter welchen Bedingungen kam es zum Wandel grundlegender Wertvorstellungen unter den Mitgliedern?

In den chronologisch gegliederten Kapiteln II, III und IV berücksichtigt Hamel immer wieder das Modell der "Meta-Organisation". Zugleich beschreibt sie ausführlich die Rolle einzelner Akteure innerhalb der DJO. Sie geht ausführlich auf generationell maßgeblich mitbedingte Konflikte ein und belegt diese anhand von Korrespondenzen, Verlautbarungen, Beschlüssen und anderem schriftlichen Quellenmaterial. Außerdem bezieht sie immer wieder die Interviews mit ein, die sie mit DJO-Mitgliedern geführt hat.

Kapitel I thematisiert Vorgeschichte und Gründung (1944-1951) des Verbandes. Im Mittelpunkt stehen hier Akteure, die auf Fluchterfahrungen als Kinder und Jugendliche zurückblickten und erfahrungsbedingt einen anderen Blick auf die emotional spannungsgeladenen Themen Heimatverlust und Heimatsehnsucht hatten als ihre Eltern. Viele Junge schämten sich, Geflüchtete zu sein. Insofern überrascht es nicht, dass die DJO einen Resonanzboden für Nöte und Bedürfnisse junger Flüchtlinge und Vertriebener darstellte.

In Kapitel I betont Anne-Christine Hamel zudem die Bedeutung des Gründungsortes der DJO, die Jugendburg Ludwigstein, östlich von Kassel, nahe der deutsch-deutschen Grenze gelegen und ein Traditions-Zentrum für Gruppierungen, die sich der bürgerlichen historischen Jugendbewegung verbunden sahen. Auf jugendbewegt geprägte Stil- und Ausdrucksformen, die Bedeutung von Fahnen oder einheitlicher Kleidung beispielsweise, kommt sie in weiteren Abschnitten zurück.

Im Zentrum von Kapitel II stehen die Jahre 1951 bis 1968, insbesondere Erwartungen an die Mitglieder, Erbe und Auftrag gegenüber den Herkunftsfamilien betreffend. Ferner geht es um das Erscheinungsbild der Mitglieder in der Öffentlichkeit, das zunehmend unzeitgemäß wirkte. "Grenzlandaktionen" (541) im Stil nationalistisch-völkischer Zwischenkriegstraditionen wirkten unangemessen. Auch die Rezeption der Literatur umstrittener Schriftsteller:innen (375) oder fragwürdiger Lieder beziehungsweise Liedtexte (382) galt es zu hinterfragen. Korrekturbedürftig erschienen zudem Ressentiments gegenüber der Bevölkerung in osteuropäischen Nachbarländern. Hier wirkten Menschenbilder aus der Zeit vor 1945 nach, die revidiert werden mussten.

"Neue Herausforderungen im Kontext gesellschaftlichen Wandels" überschreibt die Autorin das aus Sicht der Rezensentin besonders interessante Kapitel IV, das mit den Jahren 1968 bis 1974 sowohl generationelle Veränderungen als auch deutlich erkennbare inhaltliche Wandlungen innerhalb der DJO in den Blick nimmt. Anschaulich werden Konflikte etwa am Beispiel eines "Flaggenvorfalls" im Jahr 1970. Mitglieder der DJO hatten kurz vor einem Treffen Willy Brandts und Willi Stophs in Kassel eine DDR-Flagge entfernt und zerrissen. Die politischen Wogen schlugen hoch, die mediale Empörung war groß und das Bild der Organisation massiv beschädigt. Anne-Christine Hamel geht dem Lebensweg eines der an dem Skandal beteiligten DJO-Akteure nach und belegt dessen politisch rechtslastige Überzeugungen und Einmischungen. Sie betont allerdings in diesem Zusammenhang, es seien in der DJO höchst unterschiedliche Meinungen vertreten worden.

Differenzierte Beschreibungen und vorsichtige Wertungen sind insgesamt eine der Stärken der vorgestellten Studie. Der Namensänderung des Verbandes im Jahre 1974 in "djo - Deutsche Jugend in Europa" (DJO-DJiE) war ein vielschichtiger, spannungsreicher Prozess vorangegangen. Dem programmatisch wichtigen Schritt der Umbenennung folgten weitere Veränderungen (Kapitel V), die schließlich einen Ausblick auf aktuelle Migrationsdynamiken eröffnen.

Anne-Christine Hamel hat den Wandel der DJO in ihrer Komplexität in beeindruckender Weise beschrieben. Leser:innen können sich bei der abwechslungsreichen spannenden Lektüre einzelnen Aspekten vertiefend zuwenden, beispielsweise der Kommunikation mit Vertreter:innen anderer Jugendverbände und politischer Parteien. So fanden bemerkenswerte Gespräche zwischen Sozialdemokraten, der Sozialistischen Jugend Deutschlands - Die Falken (SJD), des Bundes Deutscher Katholischer Jugend (BDKJ) und DJO-Mitgliedern statt, die von ernst zu nehmender Dialogbereitschaft zeugen. Möglichkeiten zur Weiterarbeit ergeben sich in vielfältiger Weise. Desiderate sind in der Arbeit mehrfach benannt (37, 40, 45f., 152, 961), womit abschließend die Lektüre empfohlen sei.


Anmerkungen:

[1] Anne-Christine Hamel: Meta-Organisationen in Zeiten des Wandels. Die "Deutsche Jugend des Ostens" als Gegenstand gesellschaftspolitischer Kontroversen der Nachkriegszeit, in: Im Kreuzfeuer der Kritik. Umstrittene Organisationen im 20. Jahrhundert, hgg. von Marcus Böick / Marcel Schmeer, Frankfurt am Main / New York 2020, 453-484.

[2] Göran Ahrne / Nils Brunsson: Meta-organisations, Cheltenham 2008.

Barbara Stambolis