Darius Furmonavicius: Lithuania Transforms the West. Lithuanias Liberation from Soviet Occupation and the Enlargement of NATO (1988-2022) (= Soviet and Post-Soviet Politics and Society; Vol. 263), Hannover: Ibidem 2024, 476 S., ISBN 978-3-8382-1779-6, EUR 42,00
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Litauens neuere Geschichte steht im Fokus des vorliegenden Werks. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt auf dem 20. Jahrhundert, insbesondere dem Widerstand der litauischen Bevölkerung gegen die sowjetische Besatzung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Wiedererlangung der nationalen Unabhängigkeit 1990/91. Die Kernthese ist dem Buch vorangestellt: Die Bedeutung der litauischen Geschichte für Europas Sicherheit wird im Westen verkannt. Litauens anhaltender Widerstand gegen die Sowjetunion hat zu ihrem Zerfall beigetragen; Litauen hat die Erweiterung der NATO nach dem Kalten Krieg vorangetrieben; und die baltischen Staaten sind zu einem integralen Bestandteil der europäischen und transatlantischen Sicherheitsarchitektur geworden.
Nach dem einleitenden Kapitel wird die Geschichte Litauens chronologisch nachgezeichnet. Der Autor beginnt seine Ausführungen im Mittelalter und beschreibt, wie die Erinnerungen an das litauisch-polnische Großreich bis heute nachwirken. Demnach habe das litauische Nationalgefühl Jahrhunderte überdauert. Die 1918 erlangte Unabhängigkeit währte kurz. Zwar bekannte sich Litauen vor Beginn des Zweiten Weltkriegs zur Neutralität, wurde aber durch den 1939 zwischen der Sowjetunion und Nazi-Deutschland geschmiedeten Nichtangriffspakt zur Verhandlungsmasse. Die sowjetische Invasion Litauens 1940 hatte massenhafte Verhaftungen und Deportationen nach Sibirien zur Folge. Die sich anschließende NS-Herrschaft vernichtete das jüdische Leben in Litauen. Widerstand regte sich gegen beide Besatzungsmächte. Während sich 1941 - im Zuge des Juni-Aufstandes - eine Übergangsregierung bildete, um die Unabhängigkeit Litauens wiederherzustellen, gelang es den Nationalsozialisten während ihrer Herrschaft nicht, eine litauische Freiwilligenlegion der SS aufzustellen. Beides wird im Buch als Beleg für den ungebrochenen Willen zum Widerstand in der litauischen Bevölkerung angeführt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann eine fast fünfzigjährige sowjetische Besatzungszeit. Mehrere Kapitel widmen sich dem litauischen Widerstand gegen die Sowjetunion und der friedlichen Revolution durch Sąjūdis (dt. Reformbewegung Litauens), die die UdSSR auseinanderbrechen ließ. Gorbatschows angestrebte Öffnung der Sowjetunion wurde von Sąjūdis genutzt, um ihrer Forderung nach historischer Gerechtigkeit Gehör zu verschaffen. Zentral war das Anliegen, die Verbrechen der Sowjetunion aufzuarbeiten, den Hitler-Stalin-Pakt für nichtig zu erklären und die Unabhängigkeit Litauens wiederherzustellen. Um dieses Ziel zu erreichen, vermied Sąjūdis zunächst die offene Konfrontation und versuchte, das sowjetische System von innen zu zersetzen. Im Sommer 1989 bildeten Balten - fünfzig Jahre nach Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts - eine Menschenkette, um für die Freiheit Litauens, Lettlands und Estlands zu demonstrieren. Bei den ersten freien Wahlen 1990 errang Sąjūdis eine parlamentarische Mehrheit. Die sowjetische Führung reagierte auf den Kontrollverlust mit wirtschaftlichen Blockaden und Gewalt, was die internationale Anerkennung der litauischen Unabhängigkeit nach sich zog. Die sowjetischen Truppen verließen Litauen letztendlich 1993.
Folglich war das Zusammenwirken innerer Entschlossenheit und internationaler Unterstützung zentral für Litauens Weg in die Freiheit. Das Buch macht die litauische Geschichte des 20. Jahrhunderts einer breiten Leserschaft zugänglich. Die ins Englische übersetzten litauischen Quellen bilden die empirische Grundlage. Hiermit ist auch ein Kritikpunkt verknüpft. Insbesondere in den letzten Kapiteln nehmen wörtliche Zitate viel Raum ein und lassen eine differenzierte Einordnung vermissen. Die aktuelle Relevanz des Buches ergibt sich aus der verschlechterten Sicherheitslage in Europa. Wer den russischen Krieg gegen die Ukraine und seine Konsequenzen für das Baltikum besser verstehen möchte, dem sei das vorliegende Werk empfohlen. Wer aufgrund des Untertitels allerdings erwartet, dass sich der Autor vorwiegend Litauens Weg in die NATO und ihrer Integration in die europäische und transatlantische Sicherheitsarchitektur nach 1990 widmet, den wird die inhaltliche Schwerpunktsetzung irritieren. Im Mittelpunkt steht das vergangene Jahrhundert, dessen Folgen bis in die Gegenwart nachwirken. Dass dieser Teil der europäischen Geschichte aus litauischer Perspektive erzählt wird, zeichnet das Buch aus und macht es lesenswert.
Alexandra M. Friede