Rezension über:

Oliver Auge / Laura Potzuweit (Hgg.): Witwerschaft. Der einsame Mann in Geschichte, Literatur und Film (= Histoire; Bd. 204), Bielefeld: transcript 2024, 290 S., 35 s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-6329-7, EUR 50,00
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Rezension von:
Hannah Rieger
Institut für Germanistik, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Frederieke Maria Schnack
Empfohlene Zitierweise:
Hannah Rieger: Rezension von: Oliver Auge / Laura Potzuweit (Hgg.): Witwerschaft. Der einsame Mann in Geschichte, Literatur und Film, Bielefeld: transcript 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 4 [15.04.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/04/39428.html


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Oliver Auge / Laura Potzuweit (Hgg.): Witwerschaft

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Der 2024 in der Reihe "Histoire" erschienene Sammelband "Witwerschaft. Der einsame Mann in Geschichte, Literatur und Film", herausgegeben von Oliver Auge und Laura Potzuweit, widmet sich einer konkreten Personengruppe, deren Erforschung sich ein von beiden Herausgebenden getragenes DFG-gefördertes Projekt zur Aufgabe gemacht hat.

Mit Witwern fokussieren sie einen Kreis an Männern, der sich über ein geteiltes biologisches Schicksal konstituiert, das keinen Unterschied macht zwischen historischen Epochen, Standeszugehörigkeiten oder gesellschaftlichen Rollen und Ämtern. Die Betroffenen zeichnen sich also unweigerlich durch eine hohe Diversität aus, welche die Herausgebenden für ihren Band nicht weiter eingrenzen. Vielmehr setzt die Einleitung (Auge, 13-18) den Fokus auf die Geschichte der männlichen Hinterbliebenen als insgesamt zu schließende Forschungslücke (14). Entsprechend fächern die insgesamt 13 Beiträge des Bandes ein interdisziplinäres und epochenübergreifendes Spektrum auf, das den Leser:innen Einsichten in die Ergebnisse einer 2021 stattgefundenen internationalen Tagung gewährt und den Blick von den Schatzkammern des Alten Ägyptens über mittelalterliche Chroniken bis in die Belletristik des 21. Jahrhunderts schweifen lässt. Bei der Bandbreite der Untersuchungsgegenstände und dem sehr groß angelegten zeitlichen Rahmen ist klar, dass hier kein geschlossenes Bild vermittelt werden kann, sondern dass "Momentaufnahmen" (235), wie es Szill in ihrem Fazit am Ende des Bandes bezeichnet, versammelt werden.

Einzelne immer wieder aufscheinende Themenbereiche, mit denen die Witwer umgingen, kristallisieren sich bei der Lektüre aber doch heraus, wenn auch mit jedem Puzzlestück zugleich neue Brüche und Unbestimmtheiten in der Frage, was den titelgebenden "einsame[n] Mann" ausmachen könnte, entstehen.

Die Unbestimmtheit des Witwers beginnt schon bei der immer wieder im Band thematisierten fehlenden historischen Begriffsschärfe bzw. der gegenüber weiblichen Hinterbliebenen deutlich geringer ausfallenden künstlerischen Bearbeitung. So zeigen die Beiträge von Fischer-Elfert (89-104) oder Günther (105-111) in Bezug auf das Alte Ägypten und die griechisch-römische Antike, dass es für den Witwer in diesen Kulturen keinen eigenen Begriff und relativ (zur Witwe) wenig aufschlussreiches Material zur Kartierung dessen gibt, was mit dem Witwer verbunden wurde. Natürlich ist Szill in ihrem schließenden Beitrag am Ende des Bandes zuzustimmen, dass ein fehlender Begriff nicht auf die Nichtexistenz bzw. das Nichtinteresse an einem Gegenstand deuten muss (246f.), doch scheint die sich abzeichnende nicht vorhandene Notwendigkeit, den Witwer als solchen konkret benennen zu können, doch auch ein deutliches Symptom seiner nicht festgelegten Rolle zu sein, die der Band in den weiteren Beiträgen erkennen lässt.

So formulieren die Studien zu den "Witwer[n] aus künstlerisch-literarischer Perspektive" (179) für den Film (Wulff, 181-187), für die mittelalterliche Literatur (Mierke, 199-216) und für die Literatur des 20. Jahrhunderts (Tebben, 217-233, hier 230), dass (im Vergleich zu ihren weiblichen Pendants) auffallend wenige Witwer bearbeitet würden. Für jene Witwer, die sie aber in ihren Streifzügen durch Filme und literarische Werke ausmachen, ergibt sich dann ein (sicher auch durch den langen Untersuchungszeitraum begründetes) buntes Panorama von trauernden Ehemännern über sich um die genealogische Erbfolge sorgenden Herrschern bis hin zu Pygmalion-Anspielungen, in denen der Witwer seine verstorbene Gattin nachbildend ersetzt.

Diese Freiheiten in der künstlerischen Gestaltung verbinden sich schlüssig mit jenen Befunden, welche diejenigen Beiträge des Bandes formulieren, die sich mit historischen Quellen und historisch verbürgten Witwern befassen. Auch sie zeigen ein äußerst diverses Bild dessen, was den Witwerstand zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen ausmachte. Gemein ist ihnen der Befund, dass sich für die Betroffenen durch den Tod der Gattin kein fundamentaler Wandel einstellte, blieben sie doch ihrem Stand, ihrem Amt oder Beruf, ihrer gesellschaftlichen Rolle verhaftet und änderte sich an ihrer ökonomischen Versorgungslage nichts (siehe dazu dezidiert Hörmann-Thurn und Taxis, 21f.). Vielmehr löste, so zeigen die Einzelstudien, der Wegfall der Gattin ganz individuelle emotionale wie organisatorische Notstände aus, die der Witwer für sich ausräumen musste, dies aber mit allen erdenklichen Freiheiten tun konnte. Der Tod der Ehefrau präsentiert sich hier nicht selten als ganz pragmatisches Problem: als der plötzliche Wegfall einer häuslichen Arbeitskraft oder einer die dynastische Erbfolge sichernden Gebärenden. So zeigt der Band am Beispiel fürstlicher Witwer, dass sich hier die Frage nach einer Wiederheirat vor allem über die Frage nach einem Sohn stellt, den man, sofern er bereits existierte, nicht durch eine Zweitehe in seinen Erbansprüchen schwächen wollte, oder den man eben noch benötigte und dazu schnell wieder zu heiraten geneigt war (vgl. dazu Hörmann-Thurn und Taxis, 21-43; Spieß, 45-70; Potzuweit, 71-86; Andermann, 133-144). An anderer Stelle bildet sich ab, wie sich bestimmten Status- oder Berufsgruppen vor allem die Frage nach der Organisation des häuslichen Lebens bzw. der Übernahme der repräsentativen Pflichten und Fähigkeiten der verstorbenen Gattinnen stellt (zur repräsentativen Aufgabe der Kaiserin vgl. Pangerl, 113-130; zur Schwierigkeit, einen Pastoren- bzw. Professorenhaushalt ohne Care- und Hausarbeit leistende Ehefrau zu führen, vgl. Jakubowski-Tiessen, 145-159 und Bruhn, 161-178).

Zeigen sich damit über die breit gewählten Zeiträume und die diversen Untersuchungsgegenstände hinweg durchaus einende Herausforderungen, vor denen die Witwer stehen, bleiben ihre beschriebenen Reaktionen darauf unbestimmt. Zwischen lebenslangem Witwertum und schneller Wiederheirat, Trauer und nüchternem Pragmatismus spannt der Band einen weiten Bogen an Handlungsoptionen, auf welche die Witwer durch alle Jahrhunderte zugreifen konnten und welche zwar durch ihre ganz individuelle Lebenssituationen erzwungen sein mögen, aber keinen gesellschaftlichen Normen unterlagen oder eine Auseinandersetzung mit übergreifenden moralischen Ansprüchen erkennen ließen.

Gerade die Freiheit des Witwers, seiner Notlage auf die seiner individuellen Situation angemessene Weise zu begegnen, ist ein bemerkenswerter Befund des Bandes. Eventuell hätte er noch mehr zur Geltung kommen können, hätte man die ganz anders zu schreibende, von konfligierenden pragmatischen Zwängen und christlich-moralischen Idealen geprägte Geschichte der Witwe zumindest in Bezug auf die historischen Beiträge wenigstens kursorisch als Vergleichspunkt oder zur Abgrenzung berücksichtigt. Dem diesbezüglich in der Einleitung vorangestellten Diktum: "Gendergeschichte darf nicht bloß die Geschichte von Frauen meinen!" (16), wird wohl niemand widersprechen und selbstverständlich steht auch die kulturgeschichtliche Entwicklung des Konzepts der Witwenschaft keinesfalls einer schwerpunktmäßigen Betrachtung der männlichen Seite entgegen, ist es doch das Verdienst des Bandes, hier einen tatsächlich blinden Fleck zu erhellen. In der Relationierung zu anderen sozialen Konstrukten läge aber vielleicht ein Schlüssel, dem Facettenreichtum der im Band ausgestellten "einsame[n] [Männer] in Geschichte, Literatur und Film" in der Abgrenzung mehr Kontur zu geben.

Hannah Rieger