Vivien Bienert: Das Augustiner-Chorherrenstift Böddeken. Bibliothek und Buchproduktion im 15. Jahrhundert (= Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters; Bd. 7), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2024, 2 Bde., 423 S., 323 Farb-Abb., ISBN 978-3-412-52621-4, EUR 110,00
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"Aus den reichen Handschriftenbeständen, die aus dem Volumen des Böddeker Bibliotheksraums und den jüngeren Inventarlisten zu erahnen sind" (187), ist nur ein Bruchteil überliefert - ein Befund, der angesichts des Schicksals zahlreicher deutscher Kloster- und Stiftsbibliotheken im 19. Jahrhundert kaum überrascht. Umso größer ist das Verdienst der Autorin Vivien Bienert, den heute nur noch "fragmentierten Bestand" (187) der Bibliothek des Augustiner-Chorherrenstifts Böddeken für das 15. Jahrhundert zu rekonstruieren und zu analysieren. Die vorliegenden zwei Bände sind in der Reihe "Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters" 2024 im Böhlau Verlag erschienen. Der erste Band bietet eine Analyse und einen Katalog der Handschriften mit Böddeker Provenienz; der zweite Band erweitert die Publikation als Bildband um einen reichen Abbildungsteil mit 327 Illustrationen. Dazu gehören etwa Abbildungen mittelalterlicher Handschriften, Grundrisse sowie Kartenmaterial. Abgerundet wird der Bildband durch zwei Tabellen, wovon eine Darstellung eine Übersicht von in Böddeken tätigen Schreibern (300-301) enthält.
Seit der Gründung eines Frauenkonvents durch den Paderborner Archidiakon Meinolphus im 9. Jahrhundert ist in Böddeken eine religiöse Gemeinschaft nachweisbar (91-92). Zu Beginn des 15. Jahrhunderts übertrug Wilhelm von Berg, Bischofselekt von Paderborn, das Stift an die Augustiner-Chorherren von Bethlehem in Zwolle. Diese besiedelten ab 1409 Böddeken und schlossen sich der Windesheimer Kongregation an (29-30, 74, 93-95). In der Folge entwickelte sich Böddeken zu einem bedeutenden Reformzentrum mit überregionaler Ausstrahlung. Die Auflösung des Augustiner-Chorherrenstifts erfolgte im Zuge der Säkularisation 1803, durch die der handschriftliche Bestand zerstreut wurde.
Die Autorin verfolgt in ihrer Publikation das Ziel, die Bibliothek sowie die Handschriftenproduktion Böddekens einer mehrschichtigen methodischen Analyse zu unterziehen. In einem ersten Zugriff wird die Bibliothek als "baulicher Raum" (10) verstanden; die Lage im Konventsgebäude, architektonische Gestaltung und Ausmalung werden hierbei eingeordnet. Zugleich wird die Bibliothek als "inhaltlicher und materieller Bestand" (10) erfasst. Diesem Aspekt nähert sich die Autorin durch die Auswertung von Bücherverzeichnissen und Katalogen sowie durch die Analyse der in der Stiftsbibliothek aufgestellten Handschriften. Dadurch ist es ihr möglich, erste Thesen hinsichtlich der thematischen Schwerpunkte der Sammlung aufzustellen.
Nach einer Einleitung mit Forschungsstand folgen zwei Kapitel, die den historischen Kontext sowie Rahmenbedingungen der Buchproduktion in Böddeken beleuchten. Den Hauptteil der Arbeit bilden drei kunsthistorische Analysekapitel, in deren Zentrum der Bibliotheksraum, die Böddeker Buchmalerei sowie das sogenannte Erpernburger Catholicon stehen.
Im ersten Kapitel fasst Bienert die bisherigen Arbeiten zur handschriftlichen Überlieferung sowie zum Bibliotheksraum präzise zusammen, identifiziert bestehende Forschungslücken und unterzieht bislang kaum hinterfragte Thesen und Themenfelder einer kritischen Reflexion. Eine stärkere Berücksichtigung der Forschungsgeschichte zum Stift selbst hätte eine inhaltliche Brücke zum anschließenden Abschnitt im zweiten Kapitel schlagen können, der in knapper Form auf die Gründung und Entwicklung Böddekens eingeht. Das zweite Kapitel widmet sich der dortigen Handschriftenproduktion. Bienert gelingt es, einen "systematische[n] Aufbau einer Bibliothek" (44) nachzuweisen, auf den sie später erneut vertiefend eingeht. Dort zeigt sie, dass der Aufbau primär auf die interne "Versorgung des eigenen Konvents mit geistlicher Literatur" (74) ausgerichtet war. Gleichwohl wird deutlich, dass die Buchproduktion Ausdruck der aktiven Rolle Böddekens innerhalb der Kongregation war. Im dritten Kapitel untersucht Bienert die organisatorischen Abläufe der Buchproduktion und den strukturellen Ausbau der Bibliothek auf Basis überlieferter Kolophone und Katalogeinträge. Mithilfe diplomatischer und chronikalischer Zeugnisse überprüft sie bestehende Zuschreibungen mutmaßlich Böddeker Provenienzen kritisch.
Im vierten Kapitel widmet sich Bienert zunächst der Frage nach der Bücheraufbewahrung in Böddeken. Sie rekonstruiert die Existenz eines Vorgängerraums ab den 1430/1440er Jahren (122), bevor im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts ein eigens dafür vorgesehener Bibliotheksraum entstand. Bienert greift dabei den aktuellen Forschungsstand auf, korrigiert verbreitete Fehlannahmen und verweist auf die Grenzen der Quellenlage. Ein Bibliothekskatalog von 1803, obwohl neuzeitlich, erlaubt dennoch Rückschlüsse auf mittelalterliche Ordnungsprinzipien: Die thematische Sortierung der Werke, etwa in Patristik, Predigtliteratur und Hagiographie, verweist auf Kontinuitäten in der Nutzung. Auch die Ausmalung des Bibliotheksraums deutet auf eine inhaltliche Strukturierung hin. Eine exakte Rekonstruktion der historischen Buchaufstellung muss jedoch spekulativ bleiben (138-141).
Im Anschluss daran richtet Bienert ihren Blick auf die illuminierten Handschriften des 15. Jahrhunderts. Sie weist nach, dass die Ausstattung mit Initial- und Randschmuck insbesondere unter den Prioren Arnold Hulß und Arnold Holt Mitte des 15. Jahrhunderts eine Blütezeit erlebte. Anhand ausgewählter Beispiele, etwa dem Böddeker Passionale von 1445, zeigt sie, dass der Buchschmuck einem "hierarchisch differenzierten System der Textgliederung" (150) folgt. Ihre Analyse ergibt zudem, dass ab der Mitte des 15. Jahrhunderts ein inhaltlicher Schwerpunkt auf Werke des Augustinus und der Hagiographie gelegt wurde.
Im abschließenden Kapitel legt die Autorin den Fokus auf eine Handschrift mit unklarer Provenienz. Für die Entstehung des Erpernburger Catholicon in den 1450er Jahren in Böddeken gibt es zwar Indizien, aufgrund eines fehlenden Kolophons oder eingetragener Besitzverhältnisse ist dies aber nicht eindeutig bestimmbar. Es handelt sich um eine im 15. Jahrhundert entstandene Abschrift eines Textes, der Ende des 13. Jahrhunderts vom Dominikaner Johannes Januensis verfasst wurde; die Handschrift wird heute im Archiv von Schloss Erpernburg aufbewahrt.
Anhand dieses Codex bietet Bienert eine Detailuntersuchung, mit der sie zugleich die Relevanz des anschließenden, umfangreichen Katalogs mit insgesamt 75 Handschrifteneinträgen unterstreicht. Das Verzeichnis dokumentiert die kodikologischen Merkmale, darunter etwa Provenienz, Datierung oder Inhalt, und stellt damit eine wertvolle Grundlage für weiterführende Untersuchungen zu den Handschriften Böddekens dar. Ein abschließendes Register der verzeichneten Handschriften erleichtert die gezielte Recherche innerhalb des Katalogs; auf ein Personen- und Ortsregister wurde hingegen verzichtet.
Über die beeindruckende Zusammenstellung der am Original untersuchten Handschriften hinaus gelingt es Bienert, den Buchschmuck der Böddeker Handschriften erstmals systematisch in Beziehung zur Stiftsgeschichte, zur baugeschichtlichen Entwicklung und zur dortigen Buchproduktion zu setzen. Ihre Studie bietet somit eine kunsthistorische Neubewertung der Buchmalerei in Windesheimer Reformstiften. Ihre Arbeit ist in hohem Maße interdisziplinär anschlussfähig und liefert Impulse für weitere materialwissenschaftliche, historische und kunsthistorische Untersuchungen zu Böddeken sowie zur Windesheimer Kongregation insgesamt.
Isabel Kimpel