Stefan Dietl: Antisemitismus und die AfD, Berlin: Verbrecher Verlag 2025, 135 S., ISBN 978-3-95732-616-4, EUR 16,00
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In der Geschichte der Bundesrepublik ist der Erfolg der Alternative für Deutschland (AfD) einzigartig: Keiner Partei mit rechtsextremen Strukturen ist es gelungen, so viele Wählerinnen und Wähler für sich zu gewinnen wie bei der jüngsten Bundestagswahl am 23. Februar 2025. Seit ihrer Gründung vor zwölf Jahren findet eine öffentliche Debatte über ihre antidemokratischen, antifeministischen, queerfeindlichen und rassistischen Positionen statt. Deutlich seltener wird dabei jedoch ihr Antisemitismus thematisiert. Zu diesem Befund gelangt der Gewerkschafter und Publizist Stefan Dietl im Vorwort seiner neuesten Veröffentlichung, die den Anspruch erhebt, diese Leerstelle zu füllen.
Das Buch beginnt mit dem "Fall Gedeon", der als "Startpunkt für die Debatte um Antisemitismus in der AfD begriffen werden" könne (13). Das Kapitel streicht verschiedene Aussagen Wolfgang Gedeons, eines ehemaligen Landtagsabgeordneten der AfD in Baden-Württemberg, aus früheren Publikationen heraus: Dazu zählen Plädoyers für die Leugnung des Holocaust ebenso wie die positive Bezugnahme auf die "Protokolle der Weisen von Zion", ein um 1900 entstandenes Pamphlet, das eine jüdisch-freimaurerische Weltverschwörung dokumentieren soll und auch von den Nationalsozialisten verbreitet wurde. Trotz dieser Äußerungen, von denen er sich nicht distanzierte, genoss Gedeon großen Rückhalt in der Partei und nahm auch nach seinem Austritt aus der Landtagsfraktion am Parteileben weiterhin rege teil. Erst 2020 wurde er ausgeschlossen.
Die nächsten Kapitel behandeln verschiedene Aspekte des in der Partei virulenten Antisemitismus. Dazu zählen geschichtsrevisionistische und holocaustrelativierende Aussagen, etwa die im Grundsatzprogramm postulierte Forderung, "[d]ie aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus [sei] zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst" (23). Auch Verschwörungstheorien spielen immer wieder eine Rolle. Stets ist von "Umvolkung" und dem "Großen Austausch" die Rede, einer angeblichen Verdrängung der deutschen Bevölkerung durch Immigration. Verantwortlich gemacht werden dafür reiche Juden wie Rothschild und George Soros. Gerade das Feindbild Rothschild ist brisant, verweist es doch auf eine alte antisemitische Tradition: Während des Nationalsozialismus wurde etwa der Propagandafilm "Die Rothschilds" gedreht. Auch die Agitation gegen die "globalistischen Eliten" (28) "reproduziere die semantische Struktur des Antisemitismus" (34): Die von der AfD zum Feindbild stilisierten Eliten ersetzten das Judentum, um Antisemitismusvorwürfen vorzubeugen, während zugleich die klassischen antisemitischen Ideologeme um Verschwörung, Übermacht, Volkszersetzung etc. erhalten blieben und von Antisemitinnen und Antisemiten dechiffriert werden könnten.
Etwas überraschend sind vielleicht die Ausführungen zum Verhältnis der AfD zu Israel. Entgegen ihrer Selbstinszenierung "als entschiedene Kämpferin gegen israelbezogenen Antisemitismus" lässt sich auch diese Spielart der Judenfeindschaft in der Partei vielfach nachweisen, insbesondere nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023. Auch die Vernetzung mit dem iranischen Regime, das aus seinen Vernichtungsabsichten gegenüber dem jüdischen Staat keinen Hehl macht, unterminiert den offiziell erhobenen Anspruch.
Die weiteren Abschnitte widmen sich ideologischen und historischen Wurzeln des Antisemitismus der AfD. Die "sozialprotektionistischen Forderungen" (50) der völkischen Strömung werden auf den "völkischen Antikapitalismus" (51) der NSDAP zurückgeführt, der in dezidierter Abgrenzung etwa zu linker Kapitalismuskritik in der Marxschen Tradition nicht Eigentums- und Produktionsverhältnisse zu ihrem Gegenstand machte, sondern eine angebliche "Zinsknechtschaft des Finanzkapitals" (52), das mit dem Judentum identifiziert wurde. Doch auch die marktradikale Strömung der AfD wird in der Tradition neoliberaler Gesellschaftsmodelle verortet, denen ein Zug zu Autoritarismus und Demokratiefeindlichkeit bescheinigt wird. Antisemitismus komme in diesem Lager als "Erklärung dafür, warum die Wirtschaft gerade nicht brummt" ins Spiel, "wenn die vielbeschworene unsichtbare Hand des Marktes - wie so oft - versagt". Antisemitismus fungiere daher als "ein verbindendes Element" (64) zwischen den verschiedenen Strömungen.
Zu den weiteren Wurzeln zählt Dietl den christlichen Antisemitismus. Die AfD verfüge "seit ihrer Gründung über einen starken rechtsklerikalen Flügel" und über eine "einflussreiche christlich-fundamentalistische" Strömung (68). Katholikinnen und Katholiken der Partei erstrebten eine "Re-Christianisierung Europas" (69) und lehnten die liberalen Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils ab, auf dem auch das Verhältnis der Kirche zum Judentum nach der Shoa neu geordnet wurde: Gottesmordvorwurf und Substitutionstheologie wurden fallengelassen, antijüdische Pogrome verurteilt und der interreligiöse Dialog zwischen Katholizismus und Judentum intensiviert. Evangelikale Parteimitglieder wiederum würden eine "offensiv nach außen getragene christlich-fundamentalistische Solidarität mit Israel" vertreten, die sich aus der Vorstellung speise, der Messias komme zurück, sobald alle Jüdinnen und Juden in Israel leben würden. "Dies impliziert zugleich eine - bis auf Israel - judenfreie Welt" (69), wie Dietl treffend feststellt.
Dietl gelingt ein kompakter Überblick über verschiedene Aspekte des Antisemitismus in der AfD. Freilich findet sein Gegenstand keine erschöpfende Behandlung, was auch gar nicht der Anspruch des Buches ist. Vielmehr müssen sich Historikerinnen und Historiker der Herausforderung annehmen, den Antisemitismus der AfD zu analysieren, seine historischen Wurzeln und Entwicklungen gerade auch unter den Bedingungen seiner codierten Kommunikation seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges herauszuarbeiten und sich auf mögliche Angriffe der AfD auf die Erforschung von Nationalsozialismus und Holocaust einzustellen, die infolge ihrer geschichtsrevisionistischen Programmatik zu erwarten sind. Monita gibt es nur vereinzelt: Zwar sind sämtliche Behauptungen in einem Endnotenapparat belegt und nachprüfbar, doch hätte ein Literaturverzeichnis den Charakter des Buches als Einführungswerk, das zur vertiefenden Lektüre einlädt, unterstrichen. Zudem bleiben einige Bewertungen Dietls zumindest diskutabel: beispielsweise die Auffassung, der Erfolg der AfD, sich "zum politischen Sprachrohr" (12) der Querdenken-Bewegung zu machen, sei "nur begrenzt" (15, Anm. 5), da einer Umfrage des Forsa-Instituts zufolge 50% ungeimpfter Wählerinnen und Wähler diese Partei gewählt haben [1]. Insgesamt überwiegt aber deutlich der positive Gesamteindruck.
Anmerkung:
[1] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-und-die-afd-zwei-von-drei-ungeimpften-waehlen-rechte-parteien-a-da3157d2-c123-4796-898a-9f6bb35ee918, (zuletzt aufgerufen am 09.04.2025).
Andreas Rentz