Julian Gieseke: Vom äußersten Westen der Welt. Die griechische Ethnographie und die Völker Iberiens und der Keltiké im Schatten der römischen Expansion (2. Jahrhundert v. Chr. - 1. Jahrhundert n. Chr.) (= Geographica Historica; Bd. 45), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2023, 485 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-13462-0, EUR 86,00
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Die Vorstellungen der Griechen von den Regionen und Völkern an den Rändern der ihnen bekannten Welt sind seit frühester Zeit in griechischen Literaturwerken verschiedenster Gattungen reflektiert worden - auch schon in poetischen Werken vor der Entstehung von Historiographie, Kulturgeographie und Ethnographie als Gattungen der antiken griechischen Prosaliteratur. [1] Julian Giesekes Monographie führt die intensiven kulturhistorisch-ethnographischen Forschungen auf diesem Felde nun fort. Er konzentriert sich dabei auf den äußersten Westen der oikoumene im 2. Jh. v. - 1. Jh. n. Chr., d.h. die festlandeuropäischen Siedlungsgebiete der iberischen, keltischen und westgermanischen Stämme. Der insulare äußerste Westen, die britischen Inseln und Irland, werden mit Absicht ausgeklammert. Als Hauptquellen wertet er ethnographische Passagen in den späthellenistisch-augusteischen Universalhistorien und Oikoumenegeographien des Polybios, Poseidonios und Strabon aus.
Alle antiken weltumspannenden Darstellungen "beruhten immer auch auf Vergleichspraktiken" (385). Denn explizite (häufiger noch implizite, von antiken Lesern hoch geschätzte) Vergleiche dienten seit der Antike bis heute als eine Grundlage allen ethnographischen Beschreibens. Dabei verbanden die von Gieseke untersuchten Autoren ihre umfangreichen Vergleiche mit damals führenden Makro-Theorien wie der kulturellen Entwicklungstheorie, der Dekadenztheorie oder dem Einfluss der unterschiedlichen Bedingungen in den Klimazonen auf die dort lebenden Völker und Staatswesen. Giesekes Arbeit entstand im Rahmen des Bielefelder SFB "Praktiken des Vergleichens", und das geschärfte methodologische Bewusstsein für die vielfältigen Probleme der sozialen Praxis jedes Vergleichens erweist sich als einer der größten Vorzüge dieser gründlichen Untersuchung (vgl. die Einleitung 15-28). Allerdings bleiben bei der Übertragung der neuzeitlichen Praxistheorie auf antike Historiker und Geographen methodische Schwierigkeiten. Wichtig ist ebenfalls das Kapitel über die Bedeutung von älteren ethnographischen Topoi, ihre Erweiterung und Modifikation in der Beschreibung von 'barbarischen' Randvölkern der (29-49). Solche Topoi bildeten nämlich das Raster zur Erfassung und Beschreibung fremder Völker und blieben in Werken des literarischen Kanons fixiert über Jahrhunderte wirkmächtig. Gieseke ist sich durchaus selbst der Probleme bewusst, die schon aus dem Versuch einer Definition der antiken Gattung der Ethnographie entstehen, da ja der Terminus ethnographia in seiner Untersuchungszeit noch gar nicht als Gattungsbegriff üblich war. Gieseke unterscheidet in der späthellenistischen Ethnographie in seiner Vergleichstypologie (vgl. Tabelle II, 393) sechs Typen: den explikativen Vergleich, den strukturierenden Vergleich, den legitimierenden Vergleich, den relativierenden Vergleich, den singularisierenden Vergleich und den Vergleich zur Beweisführung. Obwohl die Werke des Polybios, Poseidonios und Strabon in den letzten Jahrzehnten bereits intensiv erforscht worden sind, gelingen Gieseke durch diesen Fokus auf unterschiedliche Vergleichspraktiken und regional auf die Ethnographie der Randvölker des äußersten Westens noch in einzelnen Punkten wichtige Erweiterungen des Forschungsstandes.
Die späthellenistische Phase der antiken griechisch sprachigen Ethnographie zeigt sich entgegen älteren Vorurteilen in Giesekes Untersuchung keineswegs lediglich als eine Niedergangsphase, sondern im Gegenteil als eine epochenspezifisch adäquate literarische Antwort auf das neuartige Faktum der Entstehung und der folgenden Transformation der römischen "Weltherrschaft" von der imperialen Republik zum frühen Prinzipat. Aus Raumgründen kann ich in dieser Besprechung nicht auf viele lesenswerte Einzelheiten der ausführlichen Untersuchungen zu Polybios (50-210), Poseidonios (211-299) und Strabon (300-383) eingehen. Ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen den drei Autoren besteht bereits darin, dass Polybios und mehr noch Poseidonios Teile der iberisch-keltischen Welt bereist hatten und z.T. aus Autopsie über sie schrieben, während Strabon kein Gebiet westlich von Etrurien bereist hat und für den äußersten Westen völlig auf schriftliche Quellen sowie, bestenfalls, ergänzende mündliche Auskünfte angewiesen war.
Gieseke zufolge nutzte Polybios bereits vorhandene ethnographische Bausteine, arrangierte sie aber dann zu etwas Neuem, das er durch persönliche Beobachtungen und seine Erkenntnis von der einzigartigen Wesensart der Römer, ihrer Sitten, Religion, Heeres- und Verfassungsordnung anreicherte. Dem Rezensenten bleibt allerdings fraglich, ob Polybios in den Historien tatsächlich "die Ränder der bekannten Welt aus seiner Definition der durch die symploke verbundenen oikoumene" ausschloss (161). Jedoch konnte Polybios "die Elemente klassischer griechischer Ethnographie um militärische und wirtschaftliche Details von praktischer Relevanz für die Verwaltung der Provinzen ergänzen" (210). Die ethnographischen Vergleichspraktiken des Poseidonios in seinem Ozeanbuch und den ethnographischen Exkursen der Historien ruhen auf dem Fundament seiner universellen (stoischen) Philosophie. "Beides - die empirisch gesättigte Darstellung ethnographischer nomoi und ihre Ummantelung durch geographisch-klimatische Makro-Theorien - bedingte einander und war in der Zeit des (Spät-) Hellenismus nicht mehr voneinander zu trennen" (239). Poseidonios drückt auch durch temporalisierende Vergleiche implizite Kritik an der römischen Herrschaft aus. Er resümiert, dass Menschen ihre "moralische Unbescholtenheit" umso mehr verlieren, "je näher sie an den römischen Provinzgrenzen leben" (296). Gieseke zufolge zeigen die spezifischen Vergleichspraktiken in den Geographika Strabons schließlich die Ethnographie als "Werkzeug imperialer Herrschaftslegitimierung" (300). Der Rezensent stimmt Gieseke (303f; anders z. B. Daniela Dueck) darin zu, dass wichtige ethnographische Passagen bei Strabon auch durch Herodots Vorbild geprägt wurden. Ich zweifele jedoch daran, dass Strabon wahrscheinlich "in den Bibliotheken Roms und Alexandrias auch Zugriff auf Senatsakten oder Feldzugsberichte gehabt haben" (309) werde. Dies gilt auch für eine Kenntnis des Schreibens M. Agrippas über die provinzielle Neuordnung Galliens. Hierzu sollte man eher an die Commentarii Agrippas denken. Strabon hält es für eine bloße Frage der Zeit, bis innerhalb der Grenzen des römischen Weltreiches auch alle ehemaligen Barbaren des äußersten Westens zu zivilisierten Neurömern werden. Dies kann man an Beschreibungen Südost-Iberiens im dritten oder Südgalliens im vierten Buch der Geographika erkennen.
Giesekes gründliche Studie wird die intensive Diskussion um die Randvölkerbeschreibung in der griechisch-römischen Antike ohne Zweifel bereichern. Seine Ergebnisse sollten in Zukunft mit denen zu den britischen Inseln und weiteren Randgebieten verglichen werden, um die Besonderheiten der späthellenistisch-augusteischen Ethnographie der Randvölker des äußersten Westens noch klarer zu erkennen. Das Buch ist nicht nur für Altertumskundler empfehlenswert, sondern auch für Forscher zur Ethnographie der Neuzeit.
Anmerkung:
[1] Vgl. als Ausgangspunkt der jüngeren Forschungen James S. Romm: The Edges of the Earth in Ancient Thought. Geography, Exploration, and Fiction, Princeton 1992; sowie vor dem zeitlichen Schwerpunkt Giesekes jüngst Daniel Fallmann: Der Rand der Welt. Die Vorstellungen der Griechen von den Grenzen der Welt in archaischer und klassischer Zeit, Göttingen 2023.
Johannes Engels