Marcus Quent: Gegenwartskunst. Konstruktionen der Zeit, Berlin: Diaphanes Verlag 2021, 378 S., ISBN 978-3-0358-0458-4, EUR 30,00
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"Nichts als Gegenwart, nichts als dieses Nichts." (9) - Mit diesem paradoxen Diktum eröffnet Marcus Quent seine Studie Gegenwartskunst. Konstruktionen der Zeit. Der Satz steht nicht für ein Bonmot, sondern für eine präzise gestellte diagnostische Frage: Was meint es, wenn im Kontext künstlerischer Produktion und Rezeption immer wieder von Gegenwart gesprochen wird - als wäre ihr Sinn selbstverständlich, ihr Ort bekannt, ihre Struktur verfügbar? Quent kehrt die Selbstverständlichkeit ins Fragwürdige. Denn die Gegenwart, die als unhintergehbare Zeitform der Kunstwelt kursiert, erweist sich bei näherer Betrachtung als epistemisch unklar, begrifflich diffus und theoretisch unterbestimmt.
In kunsttheoretischen, kuratorischen und kulturwissenschaftlichen Kontexten wird das Prädikat des Gegenwärtigen häufig voraussetzungslos verwendet - als Label eines scheinbar transparenten Jetzt, als Marker ästhetischer Aktualität. Doch gerade in dieser scheinbaren Evidenz liegt das Problem. Quents Untersuchung nimmt dies zum Anlass, den Zeitbegriff der Gegenwartskunst nicht empirisch zu erheben oder historisch zu verorten, sondern ihn als Denkform zu analysieren. Im Zentrum steht dabei nicht die Frage, was heute als Gegenwartskunst gilt, sondern wie künstlerische Praktiken selbst Gegenwart hervorbringen - als temporale Konstruktion, nicht als gegebenes Zeitmaß.
Die Struktur des Buches entfaltet sich entlang dreier theoretischer Modelle, die Quent aus Theodor W. Adornos, Gilles Deleuzes und Alain Badious Zeit- und Kunstverständnissen gewinnt. Voraus geht eine scharfsinnige Diagnose: Der Diskurs über Gegenwartskunst ist geprägt von der Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität - zwischen fortlaufender Aktualisierung und struktureller Unverfügbarkeit. Denn was als Gegenwart markiert wird, gerät, so Quent, im Moment seiner Bestimmung bereits in den Sog des Vergangenen: Aus Gegenwartskunst wird Vergangenheitskunst. Gerade deshalb müsse Gegenwart als ästhetisch hervorgebrachte Struktur verstanden werden - als Setzung, nicht als Datum.
Das erste Modell, das des Kraftfelds, ist in der kritischen Theorie Adornos verankert. Quent greift dessen Verständnis von Kunst als Ort des Nichtidentischen, des Widerstreits und der Spannungsverhältnisse auf, um künstlerische Werke als Zonen heterogener Zeitlagen zu denken. Im Kraftfeld begegnet sich das Ungleichzeitige: Gegenwart erscheint nicht als homogenes Zeitkonzept, sondern als konflikthafte Überlagerung divergenter Temporalitäten. Kunst wird zur Bühne eines brüchigen Jetzt, das von historischen Einschreibungen ebenso durchzogen ist wie von latenten Zukunftsfiguren. In einem zentralen Satz beschreibt Quent diese Konstellation als "Schrift-Zeichen einer unbewussten Geschichtsschreibung". (148) Das titelgebende Kunstwerk wird zur singulären Konstruktion von Zeit - nicht als Dokument, sondern als Formation, in der sich Geschichte neu ordnet: Gegenwart ist kein Punkt auf einer Linie, sondern Produkt einer verdichteten Differenz.
Das zweite Modell, das des Monuments, ist bei Deleuze verortet - in seiner Unterscheidung von Chronos und Äon, in seiner Konzeption des Virtuellen und der Gegen-Verwirklichung. Quent greift Deleuzes Denken auf, um Kunst als Ort zu verstehen, an dem Zeit nicht vergeht, sondern sich entzieht: So ist etwa das Monument keine Repräsentation des Vergangenen, sondern eine ästhetische Falte, in der sich Vergangenheit und Gegenwart auf unentscheidbare Weise verschränken. Kunstwerke mit monumentaler Qualität halten Zeit auf, durchkreuzen Verlaufslogiken und lassen das Vergangene als etwas erscheinen, das nie abgeschlossen war. In dieser Konstellation kehrt auch der Satz "Nichts als Gegenwart, nichts als dieses Nichts" (9) wie folgt mit einer Ergänzung wieder: "Nichts als Gegenwart, nichts als dieses Nichts - außer: Gegenwart" (251) - nun gedeutet als Schwebe zwischen Realem und Virtuellem, zwischen Einschreibung und Aufschub.
Das dritte Modell, die Konfiguration, ist im Denken Alain Badious verankert - insbesondere in dessen Idee, dass Kunst ein Denken "für und gegen die Gegenwart" (255) entfalten müsse. Die Konfiguration beschreibt Praktiken, die inmitten einer ereignislosen Zeit temporale Singularitäten hervorbringen: Setzungen, die sich dem affirmativen Gegenwartsbegriff entziehen. Im Zentrum steht dabei Badious Begriff der Inästhetik, den Quent mit begrifflicher Schärfe von der traditionellen Ästhetik abgrenzt. Wo klassische Ästhetik Kunst als Erfahrungsform begreift, geht es hier um Wahrheit: nicht durch Darstellung, sondern durch Entscheidung. Kunst wird zur Konfiguration - zur Disposition, die Zeit nicht zeigt, sondern setzt. Quent koppelt dies an einen universalistischen Kunstbegriff, der durch das Singuläre hindurch das Allgemeine behauptet - gegen den Relativismus der Gegenwart.
Marcus Quents Buch beeindruckt durch konzeptuelle Stringenz, terminologische Präzision und eine selten gewordene Bereitschaft zur begrifflichen Verantwortung. Seine Modelle sind nicht bloß heuristische Marker, sondern sorgfältig erarbeitete Denkformen, die in der ästhetischen Theorie ebenso wie in der Zeitphilosophie eine genuine Verortung finden. Besonders hervorzuheben ist die systematische Entfaltung des Problems "Gegenwart" - eine Leerstelle, die in vielen kunsttheoretischen Kontexten rhetorisch überspielt, aber kaum je theoretisch auf den Begriff gebracht wird. In dieser Hinsicht leistet Gegenwartskunst eine exemplarische Rekonstruktion: Sie entzieht dem Begriff des Zeitgenössischen seine selbstverständliche Autorität und gewinnt daraus eine produktive Irritation.
Gleichwohl bleibt das Buch - bei aller theoretischen Finesse - in entscheidenden Punkten schmal. Auffällig ist die Abwesenheit konkreter Werk- oder Bildanalysen. Zwar reklamiert Quent keine kunsthistorische Empirie, sondern eine konzeptuelle Archäologie des Zeitbegriffs; dennoch hätte der Rückgriff auf paradigmatische Kunstbeispiele die Modelle nicht geschwächt, sondern geschärft. Auch die fast ausschließliche Fokussierung auf Adorno, Deleuze und Badiou birgt eine gewisse hermetische Schließung: Andere Perspektiven - etwa aus postkolonialer Theorie, kuratorischer Praxis oder medienspezifischer Ästhetik - hätten das Modellkonzept unter Spannung setzen können.
Marcus Quents Gegenwartskunst. Konstruktionen der Zeit ist eine theoretisch bemerkenswerte, in ihrer begrifflichen Konsequenz seltene Studie zur ästhetischen Zeitbildung. Sie stellt das Naheliegende - was Gegenwart sei - nicht nur in Frage, sondern entwirft ein präzises und zugleich produktiv wucherndes Begriffsgefüge. Dabei gelingt es Quent, Kunst nicht als Illustration des Zeitlichen, sondern als epistemische Produktion von Gegenwart zu denken. Das ist originell, gut geschrieben, philosophisch präzise und wissenschaftlich hoch anschlussfähig.
Die Abstraktion, die das Buch stark macht, ist zugleich seine Grenze. Wo Quents Argumentation hätte konkret werden können - etwa durch Werkbezüge oder durch das Einholen konkurrierender Theorietraditionen -, zieht sie sich auf konzeptuelle Höhen zurück. Für Leser:innen, die eine systematische Auseinandersetzung mit dem Zeitbegriff in der Kunst suchen, bleibt das Buch dennoch uneingeschränkt zu empfehlen. Es öffnet einen Raum, in dem sich denken lässt, was so oft als selbstverständlich gilt: Gegenwart. Und es zeigt, dass dieser Begriff nicht einfach gegeben ist, sondern gemacht wird.
Georg Dickmann