Heike Liebsch: Wochenkinder in der DDR. Gesellschaftliche Hintergründe und individuelle Lebensverläufe, 2. Auflage, Gießen: Psychosozial 2024, 290 S., diverse s/w-Abb., ISBN 978-3-8379-3259-1, EUR 29,90
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Heike Liebsch / Eva Flemming / Carsten Spitzer (Hgg.): Wochenkrippen und Säuglingsheime. Institutionalisierte Fremdbetreuung im frühen Kindesalter, Gießen: Psychosozial 2024, 191 S., diverse Farb-,s/w-Abb., ISBN 978-3-8379-3333-8, EUR 29,90
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Das Krippensystem der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) hat in der Forschung seit der Wiedervereinigung vielseitiges Interesse erfahren. Allerdings wurde kaum danach gefragt, was die Unterbringung in einer Tageskrippe, einer Wochenkrippe oder einem Säuglingsdauerheim für ein kleines Kind eigentlich bedeutete. Erst in jüngerer Zeit ist damit begonnen worden, diese Institutionen im Kontext einer Geschichte der Kindheit anhand von unveröffentlichten Quellen aufzuarbeiten.
Auch die Dissertation von Heike Liebsch lässt sich in diesem Zusammenhang verorten. In ihrer Arbeit befasst sie sich auf einer breiten Quellengrundlage (Archivalien, zeitgenössische Publikationen, Interviews, Beiträge in Internetforen) mit der Entwicklung der Wocheneinrichtungen in der DDR, den Gefahren für die darin untergebrachten Kinder und ihren weiteren Lebensverläufen. Der Fokus liegt auf den Wochenkrippen, die zum DDR-Gesundheitswesen gehörten. Hier waren, vorsichtigen Schätzungen der Autorin zufolge, im Zeitraum ihres Bestehens (1949-1992) mindestens 200.000 Kinder im Alter von sechs Wochen bis drei Jahren durchgängig während der Arbeitswoche untergebracht. Die Geschichte der bislang weitgehend unbekannten Wochenheime für Kinder ab drei Jahren, die dem Volksbildungsministerium unterstanden, wird in der vorliegenden Studie erstmals ausgeleuchtet. Für die Stadt Dresden, die schwerpunktmäßig untersucht wird, konnte Liebsch insgesamt 20 dieser Einrichtungen mit 800 Plätzen ermitteln.
Die Autorin untersucht knapp, aber sehr informativ die historische Entwicklung der Wocheneinrichtungen und kommt dabei zu neuen Befunden, denen weiter nachgegangen werden sollte. So arbeitet sie heraus, dass die Wochenkrippe in der DDR einen Funktionswandel durchlief: War diese zunächst für alleinerziehende Mütter, studierende oder im Schichtdienst tätige Eltern gedacht, wurden in späteren Jahren vor allem Kinder aus als problematisch deklarierten Familien aufgenommen - quasi als Bewährungsprobe vor einem möglichen Kindesentzug.
Im Anschluss an jüngere Forschungen stellt Heike Liebsch Gefahren der Unterbringung dar, die bereits von der DDR-Krippenforschung klar belegt wurden, nämlich dass Krippenkinder gegenüber Familienkindern im Durchschnitt in ihrer physischen und psychischen Entwicklung zurückblieben und häufiger erkrankten. Auch den bereits in der Forschung thematisierten Zusammenhang zwischen einem frühen Abstillen der Kinder und einer erhöhten Säuglingssterblichkeit ergänzt Liebsch mit eigenen Erkenntnissen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf den emotionalen Bedürfnissen der Kinder. Liebsch kommt zu dem Ergebnis, dass Wochenkinder emotional vernachlässigt wurden, was zu traumatischen Erfahrungen führen konnte. Eindrücklich belegt sie dies anhand struktureller Probleme wie Überbelegungen und Personalmangel sowie anhand des fehlenden (politischen) Willens, die Bindungstheorie - mit Ausnahme einer kurzen Phase in den 1950er Jahren - zur Kenntnis zu nehmen. Diese war bis zum Ende der DDR kein Bestandteil der Ausbildung. Krippenerzieherinnen konnten, so Liebsch, selbst wenn sie es wollten, die Bedürfnisse der Kinder nach Nähe, Sicherheit und Bindung nicht erfüllen.
Besonders nachts waren Säuglinge und Kleinkinder auf sich gestellt - so war in den 1960er Jahren für die nächtliche Betreuung nur eine halbe Planstelle für bis zu 40 Kinder vorgesehen. Infolgedessen wurden Kinder teilweise bis Ende der 1960er Jahre nachts in ihren Betten fixiert. Ängste der Kinder wurden vielfach als "Unart" abgetan. Die besonderen Stärken des Buches liegen in der Rekonstruktion des Alltags, darunter den mühevollen Weg zu den zum Teil kilometerweit entfernten Einrichtungen, den Umgang mit den Eltern, die mithilfe der Krippe erzogen werden sollten, die Isolation erkrankter Krippenkinder, die nicht zu Hause bleiben durften, und ein Leben nach Plan, das für die Kinder bedeutete, zeitgleich immer dasselbe tun zu müssen.
Mit Blick auf die Ergebnisse zum weiteren Lebensverlauf ehemaliger Wochenkinder hält Liebsch eine stärkere gesellschaftspolitische Aufarbeitung der Institution für geboten. Denn in den von ihr (zum Teil gemeinsam mit Ute Stary) durchgeführten Interviews mit ehemaligen Wochenkindern lassen sich übereinstimmend Probleme in sozialen Beziehungen, ein übersteigertes Leistungsverhalten, Probleme mit Veränderungen, Konflikte mit den eigenen Kindern und Eltern beschreiben. Die den Betroffenen von unterschiedlichen Seiten entgegengebrachte Abwehr, sich mit dieser Betreuungsform überhaupt auseinandersetzen zu wollen, könne, so Liebsch, zur Fortsetzung traumatischer Erfahrungen führen.
Einen wichtigen Schritt zur Aufarbeitung der Wochenkrippe hat die Autorin mit dieser anschaulichen und lesenswerten Darstellung unternommen. Heike Liebsch ist ein wissenschaftlich fundiertes Buch gelungen, das den Leser informiert, berührt und zum Nachdenken bringt.
In engem thematischen Zusammenhang mit der Dissertation von Heike Liebsch steht ein von ihr mitherausgegebener Sammelband. Dieser geht zurück auf ein Symposium, das 2023 im Zusammenhang mit der Ausstellung "abgegeben" in der Rostocker Kunsthalle stattfand. Die Herausgeber verstehen den Band als Beitrag zu einem Diskurs über die grundlegenden Bedürfnisse kleiner Kinder und Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die einzelnen Beiträge sind von unterschiedlicher Länge und Qualität und beziehen sich im Wesentlichen auf die Geschichte von Wochenkrippen und Säuglingsheimen in unterschiedlichen europäischen Ländern sowie auf Fragen nach möglichen Folgen der Unterbringung für das weitere Leben und Hilfsangeboten für Betroffene.
Der erste Teil des Buches nimmt die historischen Rahmenbedingungen sowie die von der zeitgenössischen Forschung herausarbeiteten Befunde zur institutionellen Fremdbetreuung in den Blick. Jaroslav Šturma beschreibt die Erfahrungen mit der Krippenerziehung in sozialistischen Ländern insbesondere am Beispiel der ČSR/ČSSR und weist, auch unter Berücksichtigung neuerer Studien, auf Risiken einer frühen institutionellen Fremdbetreuung hin. Die Ergebnisse der DDR-Krippenforschung in Bezug auf die Wochenkrippen werden in den Beiträgen von Florian von Rosenberg und Heike Liebsch ausführlicher dargestellt, im Hinblick auf die Säuglingsheime auch knapp bei Felix Berth. Insgesamt zeigen diese drei Beiträge zur DDR, dass bereits in den 1950er Jahren die Einrichtungen intensiv erforscht wurden und auch Wissen über die Gefahren von Entwicklungsverzögerungen und Krankheiten im Staatsapparat bekannt war, man aber nicht bereit war, grundlegend etwas zu ändern. Das wird deutlich anhand des von Felix Berth vorgenommenen Vergleichs mit der Bundesrepublik, in der die Säuglingsheime infolge der Erkenntnisse der Bindungsforschung zurückgebaut wurden, in der DDR hingegen nicht. Florian von Rosenberg arbeitet heraus, dass Warnungen von Fachleuten vor den fatalen Folgen der Wochenkrippenbetreuung ignoriert wurden - mit entsprechenden Folgen für die Kinder, wie er eindrücklich am Tod eines Wochenkrippenkindes illustriert, das sich infolge der nächtlichen Fixierungspraxis strangulierte.
In einem zweiten Teil stehen die Folgen der institutionellen Fremdbetreuung für die Biografien ehemaliger Wochen- und Heimkinder im Fokus, auch wenn unter anderem von Karsten Laudien darauf hingewiesen wird, dass psychische und gesellschaftliche Problemlagen nicht monokausal auf die Betreuung in der frühen Kindheit zurückgeführt werden können. Patricia Lannen, Heidi Simoni und Oskar Jenni stellen eine laufende Studie zu den Lebensverläufen ehemaliger Heimkinder in der Schweiz vor. Staatliche Maßnahmen zur Fremdplatzierung bis 1981 sehen sie im Anschluss an die jüngere Forschung "in einen rechtlichen Kontext eingebunden, der die Menschenrechte verletzte" (150). Zwischen 2019 und 2022 untersuchten und befragten sie ehemalige Heimkinder, deren Gesundheits- und Entwicklungszustand im Kleinkindalter in den 1950er Jahren und auch im späteren Lebensalter von der Kinderärztin Marie Meierhofer erfasst worden war. Die vorläufigen Ergebnisse zeigen unterschiedliche Lebensverläufe, machen aber deutlich, "dass die Bedürfnisse eines Kindes nach Zuwendung, Sicherheit und Geborgenheit für die langfristige Entwicklung sowie die körperliche und psychische Gesundheit und damit für ein gesundes und glückliches Leben zentral sind" (149). Die von Eva Flemming, Stefanie Knorr, Laura Lübke und Carsten Spitzer vorgestellten vorläufigen Ergebnisse einer aktuellen Vergleichsstudie der Universität Rostock zwischen ehemaligen Wochenkrippenkindern und einer Stichprobe aus der Allgemeinbevölkerung geben Hinweise auf eine höhere psychische Belastung von ehemaligen Wochenkrippenkindern. Agathe Israel weist auf die Bedeutung von primären Objektbeziehungen in der frühen Kindheit hin und beleuchtet die Folgen früher Trennung an einem Beispiel aus der psychoanalytischen Praxis.
Spezifische Hilfsangebote für Betroffene, über die in einem dritten Teil reflektiert wird, fehlen jedoch weitgehend, wie die Psychotherapeutin Susanne Vogel anhand von Gesprächen mit ehemaligen Wochenkrippenkinder konstatiert. Erste Ansätze beschreiben Maja Böhm und Birgit Wagner anhand eines Schreibprojekts mit ehemaligen Wochenkindern. Christian Jakubaszek, der Erfahrungen mit Selbsthilfegruppen von Wochenkrippenkindern vorstellt, macht darauf aufmerksam, dass vor allem deren Umfeld häufig abwehrend reagierte. Anhand seiner Ausführungen wird deutlich, dass die Krippenpropaganda der DDR, die in der jüngeren Forschung aufgearbeitet wurde, offenbar tief im kollektiven Gedächtnis verankert ist.
Der Sammelband leistet mit seinen unterschiedlichen fachlichen Zugängen einen Beitrag zur Aufarbeitung der Institutionen und bietet Interessierten einen facettenreichen Einstieg in das Thema.
Carolin Wiethoff