Katja Hoyer: Im Kaiserreich. Eine kurze Geschichte 1871-1918, Hamburg: Hoffmann und Campe 2024, 272 S., ISBN 978-3-455-01728-1, EUR 26,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Lothar Gall / Ulrich Lappenküper (Hgg.): Bismarcks Mitarbeiter, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2009
Wolfgang Wippermann: Skandal im Jagdschloss Grunewald. Männlichkeit und Ehre im deutschen Kaiserreich, Darmstadt: Primus Verlag 2010
Birgit Aschmann: Preußens Ruhm und Deutschlands Ehre. Zum nationalen Ehrdiskurs im Vorfeld der preußisch-französischen Kriege des 19. Jahrhunderts, München: Oldenbourg 2013
Peter Kollwitz war im Sommer 1914 auf Ferien in Norwegen. Anfang August erreichte ihn und seine Freunde die Nachricht, dass das Deutsche Reich Russland den Krieg erklärt habe. Unverzüglich brachen sie ihren Urlaub ab und kehrten zurück nach Berlin. Peters Bruder Hans hatte sich bereits freiwillig bei den Sanitätern gemeldet, die Mutter Käthe sich dem "Nationalen Frauendienst" angeschlossen. Peter wollte ebenfalls seine Pflicht tun und eingezogen werden. Da er erst 18 Jahre alt war, benötigte er die Zustimmung seines Vaters, die dieser nach einigem Zaudern gewährte. Käthe Kollwitz sorgte sich um den Sohn und schrieb ihm. Die letzte der abgeschickten Postkarten erreichte ihn nicht mehr, im Oktober kehrte sie zurück zur Absenderin, bestückt mit einer lapidaren Notiz: "Ihr Sohn ist gefallen." Seither widmete Käthe Kollwitz ihr Schaffen dem Thema: Mütter, die um ihre Kinder trauern. Es war ein Alltagsschicksal, von dem hier berichtet wird, später geadelt mit der Rede von der "verlorenen Generation".
Die Episode findet sich, einer Metapher gleich, im Schlussteil von Katja Hoyers neuestem locker und lesbar, bisweilen flockig geschriebenen Buch. Es liefert einen Schnelldurchgang durch die Geschichte des Kaiserreichs. Das englische Original erschien 2021, offenbar gedacht für ein Publikum, das geneigt ist, Blicke auf die deutsche Vergangenheit zu werfen, aber kein Interesse hat an argumentativem Tiefgang, akademischen Kontroversen und aktuellen Trends der Forschung. Die Autorin wandelt daher auf recht konventionellen Pfaden, verzichtet auf systematische Zugriffe und bietet keine inspirierenden, über schon Bekanntes hinausweisende Ideen. Die Darstellung bewegt sich entlang der Chronologie und entbehrt einer fundierten Analyse des gesellschaftlichen Lebens. Präsentiert wird eine hin und wieder mit Flüchtigkeitsfehlern behaftete Geschichte 'von oben', die 'von unten' fehlt - von Einsprengseln abgesehen - fast völlig. Auch über die Akteure der Politik, soweit sie nicht der Regierung angehören, erfährt man so gut wie nichts. Gleiches gilt für das Mit- und Gegeneinander der Parteien und Verbände, für deren Spezifika, für die Programme, die sie entwarfen, die Ambitionen, die sie entwickelten und die Konstellationen, in denen sie ihre Wirkmächtigkeit entfalteten. Das Zentrum wird als "einzige Partei" bezeichnet, "die nicht mit dem sozialen Stand verknüpft" gewesen sei, eine Bemerkung mit einem gewissen Grad an Unverständlichkeit. Bei den Reichstagswahlen von 1877, heißt es, habe die SPD einen Anteil von 9,1 Prozent der Stimmen erreicht, "was 12 Sitzen" entsprochen habe. Dies deutet an, dass Katja Hoyer von der Funktionsweise des Wahlrechts womöglich kein angemessenes Bild besitzt.
Der Kultur ist - bezogen auf die Wilhelminische Epoche - ein eigenes Kapitel gewidmet. Betrachtet wird jedoch nicht die Sphäre, deren Erschließung man eventuell erwarten würde. Informationen über Romane, Lyrik, Theaterstücke, Essayistik sucht man jedenfalls vergeblich. Die Stichworte, die unter anderem in diesem Abschnitt auftauchen, kreisen um: Verbrauch von 'Kolonialwaren', Kaffee zum Beispiel, Vorstellungen der Völkischen, Antisemitismus, Idealisierung der Soldaten und des Soldatischen, versinnbildlicht in Zuckmayers "Hauptmann von Köpenick", außerdem Monumente, in denen sich deutsche Gewissheiten spiegelten, das Leipziger Völkerschlachtdenkmal etwa. Nichts jedoch ist darüber zu lesen, wie Kunst und Kultur zur Erzeugung und Bewahrung nationaler Identität beigetragen haben oder beitragen sollten und schon gar nichts über die Medialisierung von Politik und Alltagswelten durch die Presse, die innerhalb weniger Jahre ein Massenpublikum zu erreichen und zu mobilisieren verstand.
Im Wesentlichen zwei Personen bestimmen das Bild: Kanzler Otto von Bismarck und Kaiser Wilhelm II., jener als Gründer des Reichs, dieser als Figur des Abgesangs, der sich seiner Verantwortung durch Flucht ins niederländische Exil entzog. Bismarck dominierte die ersten beiden Jahrzehnte, Wilhelm die bis zum Ersten Weltkrieg, in deren Verlauf er von anderen Kräften, namentlich dem Militär, nach und nach beiseitegeschoben wurde. Dazwischen finden sich die in einer Synthese zu erwartenden Begebenheiten: Konflikte, die sich am Erwerb der Kolonien entzündeten, ferner die Suche nach einem "Kompromiss zwischen Demokratie und dynastischer Macht", was und wer jene verkörperte, bleibt allerdings in der Schwebe. Behandelt werden außerdem der Kulturkampf, die Wirtschaft, die Außen- und Weltpolitik, das Dreikaiserjahr von 1888, das Zerwürfnis des jungen Kaisers mit Bismarck, der Weg in die "Katastrophe" des Krieges, in der sich die "stille Diktatur" der Heerführer Hindenburg und Ludendorff herauskristallisierte. Im Angesicht der Niederlage wurde Wilhelm zur Abdankung gezwungen. Das Kaiserreich endete da, schreibt die Autorin, "wo es begonnen hatte: in Eisen und Blut." Gleichwohl spielte es in der deutschen Erinnerungskultur nach 1918 eine prominente Rolle, geronnen zu einem Bild, "das starr und perfekt im goldenen Bernstein des nationalen Gedächtnisses" eingekastelt war.
Jens Flemming