Andreas Sommer: Denken in großen Bildern. Zum didaktischen Potenzial von makrohistorischen Lerneinheiten (= Forum historische Forschung: Didaktik), Stuttgart: W. Kohlhammer 2025, 385 S., 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-17-046200-7, EUR 75,00
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Makrogeschichte trifft bei Studierenden wie auch Schüler_innen auf großes Interesse, generiert bei Studierenden elaborierter als bei Schüler_innen metakognitives, reflexives historisches Denken und kann im Geschichtsunterricht mit vertiefter Werturteilsbildung in einer planetaren "Perspektive der Weltgemeinschaft" ein Mittel gegen Rassismus sein. Dies sind zentrale Ergebnisse einer Interventions- und Progressionsstudie mit Theoriebildung zum "Denken in großen Bildern", die Andreas Sommer im Rahmen seiner Habilitation erstellte und 2025 im Verlag W. Kohlhammer publizierte. Sommer versteht unter Makrogeschichte "jene historiographischen Narrative, die langfristige Entwicklungsprozesse, übergreifende kulturanthropologische Gefüge und deren Entfaltungs-Bedingungen reflektieren." (66). Dabei gehe es weder um eine "Meistergenese" von Big History" (194), noch um die planetare Perspektivität eines Posthumanismus, sondern um ein "propädeutisches Unterfangen, historisches Denken in erweiterten Raum-Zeit-Konstrukten zu ventilieren" und "das reflexive Potential umfassender kulturanthropologischer Perspektivität" angesichts der Novität "anthropozäne[r] Reflexionsebenen" im geschichtsdidaktischen Diskurs auszuloten (11f). "Denken in großen Bildern" ist somit Sommers Antwort auf das Anthropozän, jene Chiffre für die "gegenwärtigen globalen Krisen", die "neue [...] erweiterte Perspektiven auf die Felder Menschheit, Kultur und Welt evozieren". (10) Entsprechend plädiert er normativ, historisches Lernen im Geschichtsunterricht so zu modulieren, dass auch "in Zukunft ein gemeinsames 'Überleben und gutes Leben' auf unserem 'blaua Stoa' [unserer Erde, A.d.V.] möglich sein kann" (11). Dazu müsse "die klassische Epochen- und Ereignisgeschichte systemisch" überwunden werden (33), um so bei Lernenden über "planetare Denkstile" vielleicht "anthropozentrische Hybris" zu dezentrieren (16). Folglich sollten daher Geschichtscurricula mit "Makronarrativen und -perspektiven" (332) sowie "verstärkte[m] Fokus auf Umweltgeschichte" (342) als Beitrag "historiographischer und historischer Globalorientierung" (334) "viel stringenter kulturanthropologische Fragen und [...] Erkenntnisperspektiven ermöglichen" (323-327) und Lehrkräfte entsprechend ausgebildet werden (335).
Sein Unterfangen präsentiert Sommer auf rund 360 Seiten, die einen größeren theoretisch-methodologischen Reflexionsteil, einen rund 120-seitigen Empirieteil zu Vor- und Hauptstudie sowie ein Fazit zur Empirie und einen Strukturmodellvorschlag zum "Denken in großen Bildern" umfassen. In den ersten vier Großkapiteln reflektiert Sommer umfangreich sein Konzept "Denken in großen Bildern" in Bezug zu Makro- und Globalgeschichte sowie zur geschichtsdidaktischen Theorie des historischen Denkens und des Geschichtsunterrichts. Daraus synthetisiert er seine "Intention des Konzepts 'Denken in großen Bildern'" sowie unterrichtskonzeptionelle Überlegungen. In den anschließenden zwei empirischen Großkapiteln werden die qualitative Vor- und Hauptstudie des mehrstufigen Erhebungsverfahrens jeweils in ihrer Genese, ihrem Design und Befunden präsentiert. In der Vorstudie explorierte Sommer von 2016 bis 2018 Untersuchungsmethoden einer Prä-Post-Analyse zur Wirksamkeit von extracurricularer Global- und Makrogeschichte. Dazu erhob er zunächst in einer Seminargruppe von 18 Bachelorstudierenden an der Hochschule Weingarten die Rezeption und Reflexion globalhistorischer Themen mittels offener Fragebögen und Einzelinterviews. Anhand der dort ermittelten Befunde setzten sich in einer zweiten Pilotstudie 21 Schüler_innen einer 9. Klasse der Realschule Bad Saulgau in zwei 90-minütigen Doppelstunden mit zwei "menschheitsgeschichtlich perspektivierten Themenfeldern" auseinander, die in der Seminargruppe zuvor besonders interessiert und wirksam rezipiert worden waren: zum einen die migrationshistorische Out-of-Africa-Theorie, zum anderen die chinesische Expansion unter Zheng He im Kontrast zum Geschichtsbild von Kolumbus (203).
Im Fokus der Erhebung standen die historischen Denkoperationen der Werturteilsbildung und der historischen Reflexion nach Holger Thünemann und Manuel Köster: "die Beurteilung und Reflexion der individuellen und gesellschaftlichen Relevanz eines Phänomens für Gegenwart und Zukunft" und "ein Nachdenken über Erkenntniswege und Erkenntnisebenen in Bezug auf die Gegenwart der Schüler_innen" (203). Vermittlungsmethodisch wurde dabei von problemorientierten "Big Questions" zur kognitiven Aktivierung der Lernenden ausgegangen, in deren Kontext anschließend historiographische Makrodarstellungen hinsichtlich ihrer "Orientierungs- und Deutungsnarrative" dekonstruiert und reflektiert wurden (200f).
Die Samplegenerierung zum historischen Denken der Schüler_innen erfolgte zunächst mittels "Denkzetteln", auf denen die Schüler_innen "ihre spontanen Gedanken, Fragen und Anmerkungen während des Unterrichts" notierten (202f, 254, 263). Anschließend wurden mit 6 Lernenden, deren Denkzettel metakognitive Effekte aufzeigten, Einzelinterviews geführt (254). Die Hauptstudie in vier 9. Klassen baden-württembergischer Realschulen mit insgesamt 94 Schüler_innen folgte 2019 dem Design der zweiten Vorstudie, erweiterte dieses jedoch um zwei rahmende Unterrichtseinheiten mit dem Schwerpunkt Rassismus, da Schüler_innen in der Vorstudie kaum reflexive Denkprozesse gezeigt hatten (256). Mit 16 Schüler_innen, deren Antworten "reflektierende Narrative erkennen ließen", wurden anschließend Einzelinterviews durchgeführt (265).
Die Auswertung des Samples erfolgte adäquat mittels der "inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse" nach Udo Kuckartz mit deduktiver und induktiver Kategoriebildung (224). Die generierten Kategorien werden im Band tabellarisch präsentiert und anhand exemplarischer Studierenden- und Schüler_innenäußerungen hinsichtlich ihrer theoriebildenden Potenziale und Grenzen umfangreich diskutiert. Sommers Arbeit kulminiert schließlich in seinem Vorschlag für ein Strukturmodell zum "Denken in großen Bildern" für die Unterrichtspraxis (346ff). Darin erweitert er das HISTOGRAPH-Modell [1] zum einen um Historisches Wissen und Orientierungs- und Reflexionskompetenz zu kulturanthropologischen Erkenntnisperspektiven, zum anderen um Metareflexivität des Individuums als Teil der historischen Menschheit (-sgemeinschaft) im Anthropozän (346ff).
In summa ist Andreas Sommers Schrift ein bedeutender, empirischer wie theoretischer Aufschlag für makrohistorisches Lernen und Denken mit Global- und Umweltgeschichte im profund erfassten (geschichtsdidaktischen) Diskurs zum Anthropozän. Bemerkenswert ist sein anhaltend reflexiver, theoretisch fundierter Duktus mit kohärenten Vor- und Rückgriffen in den einzelnen Kapiteln, der jedoch zu mancher Redundanz führt, die Raum für spannende Desiderate geboten hätte: Belege zu eruierten Curriculadefiziten, konkrete Darstellungen zur Gestaltung der empirischen Unterrichtsinterventionen, Fragebögen und Interviews sowie die Reflexion weiterer, relevanter Publikationen zur universalhistorischen Dimension in kulturökologischer Perspektive, wie die von Kate Hawkey [2], Rolf-Peter Sieferle [3] und Joachim Radkau. [4] Dennoch stellt Andreas Sommers Habilitationsschrift einen wichtigen, empirie- und theoriebasierten Impuls dar, um Geschichtsunterricht theoretisch und pragmatisch vor allem für die höhere Sekundarstufe I im 21. Jahrhundert weiterzudenken.
Anmerkungen:
[1] Holger Thünemann / Johannes Jansen: Historisches Denken lernen, in: Theorie des Geschichtsunterrichts, hgg. von Sebastian Bracke u.a., Frankfurt a. M. 2018, 71-106.
[2] Kate Hawkey: History and the Climate Crisis. Environmental History in the Classroom, London 2023, 13-28.
[3] Rolf-Peter Sieferle: Die Grenzen der Umweltgeschichte, in: GAIA. 2 (1993), H. 1, 8-21.
[4] Joachim Radkau: Für eine Grüne Revolution im Geschichtsunterricht - für eine Historisierung der Umwelterziehung: zehn Thesen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), 644-657.
Alexander Denzin