Rezension über:

Frank Göttmann / Eva-Maria Seng (Hgg.): Landschaft. Kultur-, Natur-, Wirtschafts- und Erfahrungsräume (= Reflexe der immateriellen und materiellen Kultur; Bd. 8), Berlin: De Gruyter 2025, 252 S., ISBN 978-3-11-047852-5, EUR 69,00
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Rezension von:
Franca Buss
DFG-Kolleg-Forschungsgruppe "Imaginarien der Kraft", Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Thomas Moser
Empfohlene Zitierweise:
Franca Buss: Rezension von: Frank Göttmann / Eva-Maria Seng (Hgg.): Landschaft. Kultur-, Natur-, Wirtschafts- und Erfahrungsräume, Berlin: De Gruyter 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 11 [15.11.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/11/40434.html


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Frank Göttmann / Eva-Maria Seng (Hgg.): Landschaft

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Der Klimawandel und die Energiewende rücken die Landschaft derzeit ins Zentrum gesellschaftlicher, politischer und ästhetischer Debatten: Einerseits steht die rücksichtslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen mehr denn je zur Disposition, andererseits wirft die landschaftsprägende Nutzung regenerativer Energiequellen neue Konflikte auf, die zwischen ökologischer Notwendigkeit und landschaftlichem Empfinden oszillieren. Diese Spannung spiegelt sich auch in der begrifflichen Vielschichtigkeit von Landschaft wider, die je nach disziplinärem Zugriff unterschiedlich gefasst wird. Der geografische Landschaftsbegriff bezeichnet ein Gebiet, das sich durch objektiv erfassbare naturwissenschaftliche Eigenschaften von anderen Gebieten unterscheidet. Der insbesondere von Joachim Ritter stark gemachte ästhetisch-philosophische Landschaftsbegriff versteht Landschaft dagegen als subjektive Wahrnehmung von Natur als ästhetische Ganzheit, die sich in der kontemplativen Betrachtung erschließt, sobald sein praktischer Nutzen in den Hintergrund tritt. [1] Diese Vorstellung stellte die geografische Landschaftsforschung vor die Herausforderung, Landschaft zugleich als sinnlich erfahrbares Phänomen und als wissenschaftlich fassbare Einheit zu begreifen. Diese Diskussion mündete 1975 im Kolloquium "Landschaft als interdisziplinäres Forschungsproblem" in Münster. [2] Seither bewegt sich die geografische Landschaftsforschung in einem Spannungsfeld zwischen empirischer Beschreibung und kultureller Deutung, wobei zunehmend deutlich wird, dass Landschaft weder als rein objektive Gegebenheit noch als bloße Projektion menschlicher Wahrnehmung zu begreifen ist, sondern als dynamisches Beziehungsgeflecht, in dem materielle, soziale und symbolische Dimensionen untrennbar ineinandergreifen.

Hier setzt der Sammelband Landschaft. Kultur-, Natur-, Wirtschafts- und Erfahrungsraum an, indem er die Kategorie des Raumes als erweiterten Bezugsrahmen der Landschaftsforschung einführt. Die Herausgeber:innen betonen die Notwendigkeit, disziplinäre Grenzen zu überwinden (14) und zwischen der "alltägliche[n] Lebensrealität" von Landschaft und ihrer "naturwissenschaftlichen Erforschung und Beschreibung [...] integrative Verbindungen" herzustellen (12f.). Anknüpfend an den spatial turn fungiert der Raumbegriff dabei als erkenntnisleitende Kategorie, die historische, geografische und kulturelle Perspektiven miteinander vermittelt. Besonders deutlich wird dies in Bezug auf das "Raumwerk Westfalen" [9.], dem Wilfried Ehbrecht einen eigenen Beitrag widmet und das Raum als interdisziplinäre Schnittstelle unterschiedlicher methodischer Zugriffe positioniert. [3] Es verwundert somit kaum, dass der Mitherausgeber Frank Göttmann in seinem Aufsatz zum "begrifflichen und inhaltlichen Verhältnis von Landschaft und Raum" (45) mit einer gewissen "Ernüchterung" (68) über den Nutzen des Landschaftsbegriffs schließt, der seiner Ansicht nach zu viele Missverständnisse berge. Zwar hebt Göttmann die Gegenwärtigkeit und emotionale Attraktivität des Begriffs hervor (68), doch bleibt sein Fazit ambivalent. Indem er Landschaft primär als unpräzise Kategorie gegenüber dem methodisch schärfer konturierten Raumbegriff positioniert, droht der ästhetisch-phänomenologische Reichtum des Landschaftsbegriffs in den Hintergrund zu treten. Gerade für die kunsthistorische Auseinandersetzung ist diese Verschiebung problematisch. Wo Raum analytisch klarer sein mag, verliert sich mit der Landschaft ein Begriff, der nicht nur die materielle, sondern auch die emotionale und symbolische Dimension menschlicher Welterfahrung fasst. Dass andere Fragen - etwa nach dem Einfluss der Vorstellung von der "Stadt als Träger des Fortschritts" (30) auf den ästhetischen Genuss der Natur - dabei offenbleiben, verstärkt den Eindruck, dass die kulturelle Tiefenschicht des Landschaftsbegriffs zugunsten eines funktional verstandenen Raumkonzepts vernachlässigt wird.

Eine andere Akzentuierung wählt hingegen die zweite Herausgeberin Eva-Maria Seng: Sie richtet den Blick auf die Rückgewinnung des immateriellen Kulturerbes in der Landschaft und hebt die oft unterschätzte Rolle der UNESCO bei der Erfassung von Artefakten und Landschaften hervor. Dabei kritisiert sie, dass die Auswahlkriterien und Bewertungsmaßstäbe keineswegs objektiv sind, sondern wissenschaftlichen Vorlieben und politischen Entscheidungen unterliegen (128). Ein konzeptueller Ausgangspunkt für dieses Verständnis findet sich bei Hansjörg Küster, der im Sinne eines konstruktivistischen Landschaftsverständnisses betont, dass Landschaft nicht einfach als vorgefundene Natur existiert, sondern erst durch die Wahrnehmung, Reflexion und kulturelle Interpretation der Menschen entsteht. Exemplarisch zeigt er dies an einer Ansicht Zürichs aus dem 19. Jahrhundert, in der technische Anlagen als integrative Bestandteile naturbestimmter Landschaft auftreten und so die vermeintliche Dichotomie von Natur und Kultur unterlaufen (149 f). Angesichts der eingangs erwähnten politischen und ökologischen Konflikte rund um aktuelle Landschaftstransformationen, bleibt ein konstruktivistisches Landschaftsverständnis allerdings in seiner theoretischen Abstraktheit befangen und kann die Dringlichkeit konkreter Gestaltungsfragen kaum erfassen. Mit der Perspektive der Landschaft als Kulturraum beschäftigt sich auch Heinz-Dieter Heimann, der am Beispiel von Klösterlandschaften der Verbindung zwischen der spezifischen Ordenspolitik und den Natur-Raum Verhältnissen nachgeht. Am Beispiel des Kloster Corvey in Westfalen wird die Problematik der formierenden Räume im Detail beleuchtet. Besonders interessant ist die Beobachtung, dass die Buchkultur und der zwischenklösterliche Austausch eine nachhaltige Vernetzung schufen, die zur Formierung eines nach innen und außen identifizierbaren Raumes mit charakteristischer Erinnerungskultur beitrug (144f.). An diese kulturräumlichen Überlegungen schließen die historische Detailstudien von Marco Silvestri und Jan Carstensen an. Silvestri untersucht das Wassermanagement frühneuzeitlicher Montanregionen im Apennin, Harz und Potosì (Bolivien) und erweitert den Horizont damit über regionale Beispiele hinaus. Carstensen liefert wirtschafts- und umweltgeschichtliche Grundlagen für aktuelle Debatten um die ökologischen Folgen der Torfgewinnung. Stefan Schneckenburger und Ralf Sachsse beschäftigen sich schließlich mit der Repräsentation und Wahrnehmung von Landschaft. Der Botaniker Schneckenburger zeigt für die Landschaften Shakespeares, dass diese nicht nur Kulisse, sondern durch botanisches und geografisches Wissen als Metaphern für die soziale und politische Ordnung funktionieren und bei den Zuschauer:innen innere Vorstellungswelten aktivieren (210, 230). Sachsse schließlich untersucht die Entwicklung von Medienlandschaften. Ausgehend von der Fotografie, diskutiert er die Bedeutung technischer Bilder und ihre Rolle bei der Reproduktion und Wahrnehmung von Landschaft.

Insgesamt bietet der Sammelband eine vielfältige und disziplinübergreifende Auseinandersetzung mit dem Thema Landschaft. Gleichwohl wirkt er in Teilen etwas aus der Zeit gefallen. Das liegt zum einen daran, dass er auf eine Tagung vor rund zehn Jahren zurückgeht und damit stark vom spatial turn geprägt ist, zum anderen daran, dass die oben erwähnten aktuellen Transformationen im Zuge der Energiewende in den einzelnen Beiträgen nicht aufgegriffen werden. Dass der erklärte Zweck des Bandes darin besteht, "das Reden und Schreiben als dauerhaftes Thema am Leben zu erhalten und zu bereichern" (27), wirkt angesichts der konkreten und drängenden Fragen, die Energielandschaften derzeit aufwerfen, seltsam unspezifisch und zeitentrückt. Auch die fehlende Beteiligung weiterer weiblicher Autorinnen fällt auf. Zwar wird die Relevanz einer Beschäftigung mit der Landschaft in der Einleitung zu Recht benannt, markiert sie doch die "Schnittstelle zwischen Politik, Gesellschaft, Medien, Naturwissenschaften und Technik" (10), - den angekündigten integrativen Ansatz (13) erfüllen die Beiträge jedoch nur bedingt. Mitunter überwiegen eine stark theoretische Sprache und ein gewisser akademischer Exklusivismus, der den Zugang erschwert, etwa wenn zitierte lateinische Redensarten als bekannt vorausgesetzt werden (129) oder sich die Beiträge in bis zu zehn Kapitel samt Unterkapiteln verlieren, was die Lesbarkeit zusätzlich beeinträchtigt.

Dennoch verdient der Band Anerkennung für seinen Versuch, Landschaft in ihrer Komplexität zu erfassen. Besonders die kritische Reflexion der Begriffsgeschichte in der Einleitung bieten wichtige Grundlagen für künftige Forschungen (11, 14f.). Für Forschende, die sich mit der historischen Dimension von Landschaft auseinandersetzen, bleibt der Sammelband trotz seiner Schwächen eine lohnende Lektüre.


Anmerkungen:

[1] Joachim Ritter: Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, Münster in Westfalen 1963. Zur Gegenüberstellung dieser beiden Landschaftsbegriffe siehe auch Franz Petri, Ernst Winkler, Rainer Piepmeier: s.v. Landschaft, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Darmstadt 1980, Sp. 13-28.

[2] Alfred Hartlieb von Wallthor / Heinz Quirin (Hgg.): Landschaft als interdisziplinäres Forschungsproblem. Vorträge und Diskussionen des Kolloquiums am 7./8. November 1975 in Münster, Münster 1977.

[3] Franz Petri / Hermann Aubin u.a. (Hgg.): Der Raum Westfalen, im Auftrag des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, 6 Bde., Münster 1931-1996.

Franca Buss