Rezension über:

Julia Sneeringer: A Social History of Early Rock 'n' Roll in Germany. Hamburg from Burlesque to The Beatles, 1956-69, London: Bloomsbury 2019, XI + 289 S., ISBN 978-1350139534 , USD 150,00
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Michael Fischer: Diskotheken im ländlichen Raum. Populäre Orte des Vergnügens in Südwestdeutschland (1970-1995) (= Populäre Kultur und Musik; Bd. 27), Münster: Waxmann 2020, 256 S., 1 s/w-Abb., ISBN 978-3-8309-4129-3, EUR 34,90
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Rezension von:
Georg Götz
Universität Vechta
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Georg Götz: (Rezension), in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 9 [15.09.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/09/37695.html


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Julia Sneeringer: A Social History of Early Rock 'n' Roll in Germany

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In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich in der Geschichtsschreibung der populären Musik viel getan. Die deutschsprachige Forschung hat zur lange führenden angelsächsischen aufgeschlossen. Aber auch in der deutschen Geschichtskultur ist die Popmusik angekommen, und Museen widmen sich diesem Thema umfassend. Implizit oder ganz offen wird hier auch nach spezifisch deutschen Erfahrungen gefragt.

Hier sind zwei Monografien anzuzeigen, die diese Erfahrung in Westdeutschland erschließen wollen. Julia Sneeringer, Associate Professor am Queens College der City University of New York, untersucht die Rolle der Stadt Hamburg und besonders ihres Stadtteils St. Pauli in den Jahren 1956 bis 1969. Michael Fischer, Direktor des Freiburger Zentrums für Populäre Kultur und Musik, interessiert sich dagegen für die Diskotheken der südwestdeutschen Provinz zwischen 1970 und 1995. Fischer setzt also da an, wo Sneeringer endet. Auch vom Anspruch her unterscheiden sich beide: Fischer möchte mit seiner Studie "eher einen Anfangs- als einen Schlusspunkt" (11) setzen; Sneeringer will die Alltagsgeschichte des "frühen Rock'n'Roll in Westdeutschland zu untersuchen" (6).

Dies geschieht mit einem Fokus auf Deutschlands berühmtestem Vergnügungsviertel. Grundlegend ist dabei Sneeringers Anspruch, Musik zu ihrem Eigenwert zu verhelfen. Musik solle nicht "a stand-in for 'bigger' issues" sein (6). Man solle Musikschaffende, Publikum, technisches Personal, Manager, Bar- und Putzkräfte gleichermaßen als Handelnde im musikalischen Raum berücksichtigen.

In vier zentralen Kapiteln wendet Sneeringer sich den Machern der Musik-Clubs, den Musikschaffenden, den Fans und dem Publikum sowie den Autoritäten zu. Gerahmt wird dies von einem einleitenden Kapitel zur Geschichte St. Paulis als Ort des Vergnügens und einem abschließenden Kapitel zum Ende der Hamburger Szene.

Sneeringer stützt sich auf die Tagespresse, umfassende Aktenbestände wie Polizeiberichte, Interviews und Memoiren sowie auf die populäre Geschichtsschreibung. Sie zeichnet ein detailliertes und plastisches Bild des damaligen Alltags, erfasst aber auch in biografischen Skizzen die sonst oft unpersönlich als Szene zusammengefassten Akteure in ihrem jeweiligen Eigensinn und ermöglicht eine multiperspektivische Rekonstruktion. So liest sich etwa die Beschreibung der spannungsgeladenen Beziehung zwischen den Autoritäten und den Club-Besitzern stellenweise wie ein Krimi.

Mit Hamburg geschah diese Amerikanisierung oder Westernisierung in einem Ort, der stärker als andere auf klassen- und milieuübergreifende Unterhaltung und Internationalität ausgelegt war, wo ein Netzwerk aus Plattenlabels, Presswerken und Medienunternehmen hervorragende Rahmenbedingungen geschaffen hatte. Britische Musiker genossen in Deutschland hohes Prestige als Interpreten, auch von US-amerikanischer Popmusik. Andererseits zeigt Sneeringer anhand von Ego-Dokumenten britischer Teenager, wie tief diese umgekehrt das Nachtleben St. Paulis beeindruckte. Dabei wurde die Aufweichung von Schichten und Milieus über die nationale Bande gespielt, da die Deutschen den britischen Musikern einerseits als jugendliche Fans, Kellner, Prostituierte oder Putzfrauen gegenübertraten, aber andererseits auch als Arbeitgeber, Bodyguards oder Vaterfiguren. In diese transnationale Lokalgeschichte bettet Sneeringer die Geschichte der Beatles überzeugend ein und thematisiert auch die Geschichte der Frauenband Liverbirds unter geschlechtergeschichtlichen Fragestellungen. So wie die Musiker und ihre Praxis lokal und transnational verortet werden, werden auch Fanpraktiken als Mischung aus globaler Kultur und lokalem Handeln rekonstruiert.

Insgesamt kann das Buch daher durchweg gelobt werden. Allerdings - ein erster von drei Kritikpunkten - bleibt die Musik selbst etwas außen vor. Welche Texte, welche Rhythmen, welche Melodien wurden auf welchen Instrumenten mit welcher Besetzung gesungen und gespielt? War diese Musik immer so klar von Schlager zu unterscheiden, wie stellenweise suggeriert wird? War es schon Beat oder noch Rock'n'Roll? Ein spezifischer "Hamburg-Sound" (68) wird nur in ganz wenigen Sätzen skizziert.

Die große Transformation von Beat, Blues-Revival und Folk-Rock in Rock fand - zweitens - nicht in Hamburg statt, sondern in London, Los Angeles oder New York. Hamburg hatte daran genauso wenig Anteil wie andere deutsche Städte. Sneeringer beschreibt diese Entwicklungen zwar, erklärt aber nicht, warum der Hamburg-Sound oder die Hamburger Szene dazu so wenig beitragen konnten. Die britischen und US-amerikanischen Interpreten, die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre Rockmusik übernational definierten, waren mit Ausnahme der Beatles gerade nicht (Ex-)Hamburger. Interpreten, die nach 1965 noch im Star-Club auftraten, konnten offensichtlich die aktuellen Entwicklungen nicht mitgestalten, was Sneeringer lediglich in Bezug auf die Liverbirds thematisiert. Es liegt nahe, dass die in der Hamburger Szene entstehende Musik aus bestimmten Gründen diese Entwicklung nicht mitvollziehen konnte. Aber aus welchen?

Zum Dritten wird in der von Sneeringer behandelten Zeit Englisch zur vorherrschenden Sprache der Popmusik. Warum geschah dies gerade in Westdeutschland so umfassend und schnell, wo doch die Hamburger Szene eher als in anderen Ländern Voraussetzungen für eine eigenständige Rock- oder Popmusik schaffen hätte können? Sneeringer beschreibt das Ende der Hamburger Szene dagegen als Mischung aus lokalen und globalen Entwicklungen: Pop wurde immer intellektueller, das Establishment blieb skeptisch, die Kosten für Stars und für Lizenzen stiegen, die Geschmacks- und Stildifferenzierung machte zentralen Institutionen wie dem Star-Club Schwierigkeiten, zumal der Mainstream-Erfolg von Beat der Hamburger Szene ihre Exklusivität nahm und ihn in den expandierenden Medien Radio und TV deutlich präsenter machte.

Endet Sneeringer 1969, so beginnt Fischers Untersuchungszeitraum mit dem Jahr 1970. Zunächst beschreibt er in Kapitel 2 die Diskothek als Institution und ihre Geschichte mit einem Schwerpunkt auf Westdeutschland; in Kapitel 3 geht er auf die spezifische Form der Landdiskothek als "populärer Ort" ein. Die Kapitel 4-6 bilden die eigentliche Untersuchung. Grundlagen sind Akten aus dem Staatsarchiv Freiburg, aus kommunalen und nichtstaatlichen Archiven, dem Redaktionsarchiv der Badischen Zeitung sowie private Sammlungen. Hier werden die Diskotheken in Dörfern aber auch in Kleinstädten anhand der Leitbegriffe "Räume", "Programme" und "Konflikte" untersucht. Insgesamt werden 14 Diskotheken genauer beleuchtet; 52 weitere finden zumindest kursorische Erwähnung. Ein besonderer Fokus liegt auf den Diskotheken Zum Engel in Königsfeld-Neuhausen und Waldpeter in Schönwald, die beide aus alten Landgaststätten hervorgingen. Die Umwandlung der Gaststätten in Diskotheken geschah mehr oder weniger vollständig, doch gab es eine Vielzahl an Nutzungsvarianten. Die Varianz der räumlichen Gestaltung der Diskotheken im "Schwarzwald mit den angrenzenden Landschaften" (73) entspricht durchaus den Befunden für andere Regionen.

Die vielfältigen kulturellen Angebote in den untersuchten Landdiskotheken reagierten auf das mangelnde Freizeitangebot auf dem Land, was sie von ihren Äquivalenten in der Großstadt unterscheidet. Fischer meidet zu Recht den Begriff "progressive Landdiskothek", denn die allermeisten Lokalitäten scheinen fest im Mainstream verankert. Die "progressive" oder "alternative" Diskothek des nördlichen Oldenburger Landes der 1960er bis 1980er Jahre findet sich hier mit Ausnahme der Arche Waldkirch und des Waldpeter kaum. Dass Fischer relativ wenig über die dortige Musik und ihre Rezeption berichten kann, resultiert aus der Quellenlage. Er verweist hier selbst auf mehrere Möglichkeiten zur weiteren Forschung. Die Frage, ob deutsch- oder englischsprachige Musik bevorzugt wurde, könnte nur mittelbar aus der Nennung von Musikstilen abgeleitet werden. Offensichtlich spielte dies für die Gäste wie auch für die Betreiber überhaupt keine Rolle.

In Kapitel 4 werden vier klassische Konfliktfelder unter dem Titel "soziale und kulturelle Praxis" beschrieben: nächtliche Ruhestörung, Tanzverbote, Drogenkonsum und Diskriminierung ausländischer Gäste. Das fünfte Kapitel basiert auf 15 Interviews mit Menschen, die in Diskotheken tätig waren, vereinzelt auch mit Gästen. Diese Interviews werden als Einzelfälle vorgestellt und erhalten so einen fast anekdotischen Charakter, was ihnen nicht immer gerecht wird. Ein weiteres Problem des Bandes ist sein zeitlicher Zuschnitt. Zwar wird laut Titel der Zeitraum von 1970 bis 1995 abgedeckt. Während aber der in Kapitel 3 referierte Forschungsstand ganz überwiegend die Forschung zu den 1970er Jahren wiedergibt, liegt in Kapitel 4 und 5 der Schwerpunkt durchgängig auf den 1980/90er Jahren, da viele untersuchte Diskotheken erst in den 1980er Jahren entstanden. Dieses Ungleichgewicht zeigt, dass die Diskotheken der 1970er Jahre und ihre Kultur noch nicht im gleichen Maße wie die der 1980er Jahre zum Forschungsgegenstand geworden sind.

Insgesamt gelingt Fischer hier aber trotzdem die dichte Beschreibung einer Region innerhalb der westlichen Popkultur am Beispiel der Landdiskothek; er rekonstruiert hiermit auch eine zeitspezifische Vergesellschaftungsform, die über die lokale Enge bereits hinausweist, aber noch regional gebunden bleibt. Damit steht die Region Südwestschwarzwald exemplarisch für die Durchsetzung der Moderne im ländlichen Westdeutschland. Für einen Vergleich mit anderen Regionen bietet Fischers Studie daher eine ideale Basis.

Beide Monografien zeigen, dass sich auch populäre Kultur archivbasiert erforschen lässt. Sie stellen Theorien der Amerikanisierung oder Verwestlichung nicht ins Zentrum, machen aber sichtbar, wie sich die Popkultur gleichzeitig unter- und oberhalb der Nationalgeschichte erforschen lässt: sowohl lokal als auch global.

Georg Götz