David Rosand: Myths of Venice. The Figuration of State, Chapel Hill, NC / London: University of North Carolina Press 2001, 216 S., 109 s/w-Abb., ISBN 978-0-8078-2641-6, GBP 33,50
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Corinna Fritsch: Der Markuskult in Venedig. Symbolische Formen politischen Handelns in Mittelalter und früher Neuzeit (= Dissertationen; 360), Berlin: dissertation.de 2001, 409 S., ISBN 978-3-89825-260-7, EUR 59,00
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Cecilie Hollberg: Deutsche in Venedig im späten Mittelalter. Eine Untersuchung von Testamenten aus dem 15. Jahrhundert, Göttingen: V&R unipress 2005
Irmgard Fees: Eine Stadt lernt schreiben. Venedig vom 10. bis zum 12. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 2002
Davide Scruzzi: Eine Stadt denkt sich die Welt. Wahrnehmung geographischer Räume und Globalisierung in Venedig von 1490 bis um 1600, Berlin: Akademie Verlag 2010
Achim Landwehr: Die Erschaffung Venedigs. Raum, Bevölkerung, Mythos 1570-1750, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2007
Linda Thomas: Die Juden im faschistischen Italien. Die Razzien im römischen Ghetto und im Ghetto von Venedig, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2009
Larry Wolff: Venice and the Slavs. The Discovery of Dalmatia in the Age of Enlightenment, Stanford, CA: Stanford University Press 2001
Peter Nitschke (Hg.): Kulturwissenschaften der Moderne. Band 1: Das 18. Jahrhundert, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2010
Silvio Vietta: Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung, München: Wilhelm Fink 2005
Das Alltagsverständnis sortiert den Mythos gemeinhin in einen Bereich ein, dem auch Sagen, Märchen und andere "Lügengeschichten" angehören. Und in der Tat sollte man Mythen wohl weniger dahingehend befragen, ob sie mit tatsächlichen historischen Vorgängen in Übereinstimmung zu bringen sind oder zumindest einen wahren Kern enthalten. Dass sie jedoch wesentliche politische, soziale und kulturelle Funktionen für Gesellschaften übernehmen, haben in den letzten Jahrzehnten zahlreiche ethnologische, religions- und politikwissenschaftliche Arbeiten erwiesen. Mythen dienen in diesem Kontext vornehmlich dazu, einer Gesellschaft zu erzählen, wer sie selbst ist und wer die Anderen sind. Mythen beschreiben die zuweilen dramatischen Einbrüche des Übernatürlichen in die Welt, und es ist vor allem dieses Auftreten des Heiligen, das die Welt wirklich gründet und sie so macht, wie sie heute ist.
Eine solche Bestimmung mag etwas archaisch anmuten und kaum mehr für das mittelalterliche oder neuzeitliche Europa zutreffen. Das dem jedoch keineswegs so ist, haben Studien zu einem der wichtigsten, erfolgreichsten und inzwischen wohl auch am besten erforschten Mythos gezeigt, nämlich demjenigen der Stadt Venedig. Diesem Mythos - von dem die Stadt in gewisser Weise bis zum heutigen Tag zehrt - und seinen einzelnen Aspekten widmen sich zwei neuere Arbeiten des amerikanischen Kunsthistorikers David Rosand und der deutschen Historikerin Corinna Fritsch. Auch wenn beide Arbeiten in ihrer Anlage recht unterschiedlich sind - eine knappe und eher allgemein gehaltene Überblicksdarstellung von Rosand und eine detaillierte, auf intensiven Quellenstudien basierende Dissertation von Fritsch -, zeigen sie doch jeweils auf ihre Weise wie facettenreich der venezianische Mythos ist und dass sich zahlreiche und weitreichende Fragen an ihn stellen lassen.
David Rosand, seit Langem ausgewiesener Kenner der venezianischen Kunstgeschichte, widmet sich vor allem der bildlichen und architektonischen Seite der Selbstdarstellung der Serenissima. Der Aufwand, der in diesem Zusammenhang getrieben wurde, sowie die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten, in denen sich der venezianische Mythos konkretisierte, muss auch heute noch beeindrucken. Ausgangspunkte sämtlicher Versuche, die herausragende Stellung Venedigs im Mythos zu begründen und zu erklären, waren die Topografie und die legendäre Gründung der Stadt. Diese Stadt, die wie ein Schiff im Meer zu schwimmen scheint und keiner Stadtmauern bedurfte, hat immer wieder Staunen hervorgerufen. Entsprechendes findet sich auch in zahlreichen Darstellungen der Stadt, wie zum Beispiel Jacopo de' Barbaris bekanntem Holzschnitt von Venedig aus dem Jahr 1500. Doch auch das angebliche Gründungsdatum, der 25. März 421, weist zahlreiche symbolische Querverbindungen auf, am wichtigsten wohl diejenige zum Feiertag Mariä Verkündigung. Von hier wiederum ergeben sich - jeweils architektonisch und bildlich vielfach konkretisierte - Assoziationen, die Venedig als Jungfrau stilisieren (auch weil die Stadt niemals militärisch erobert wurde) oder als Inbegriff der Gerechtigkeit. Rosand macht deutlich, dass weibliche Reliefdarstellungen der Venetia und der Justitia ganz bewusst so ausgestaltet wurden, dass sie kaum voneinander zu unterscheiden waren. Die Republik Venedig konnte sich vor diesem Hintergrund als ideales Gemeinwesen mit einer idealen Regierung darstellen lassen, und damit selbstredend ein Hort der Gerechtigkeit war.
Eine Bündelung nahezu sämtlicher Tugenden, die sich Venedig zugute hielt und auch nach außen darstellen wollte, findet sich in steinerner Form auf dem Markusplatz. So wurde der Dogenpalast in Anlehnung an die von Venedig geübte Gerechtigkeit als Palast des Salomon stilisiert. Darin sowie in der "Libreria di San Marco" war aber natürlich nicht nur die Gerechtigkeit, sondern auch die Weisheit zu Hause, während die prachtvollen Gebäude der venezianischen Bruderschaften, der "scuole grandi", auf ihre Weise zur Verbreitung der Ikonografie des Venedig-Mythos beitrugen, indem sie vor allem auf die Tugend der Caritas rekurrierten.
Doch auch das pagane Element durfte in der ikonografischen Ausgestaltung des venezianischen Selbstverständnisses nicht fehlen. Neben Maria als christlichem und Justitia als tugendhaftem Anknüpfungspunkt der Symbolisierung wurde Venedig in antiker Hinsicht häufig mit Venus, der Schaumgeborenen, in Verbindung gebracht. Damit waren praktisch alle Bezugspunkte, die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften zur Verfügung standen, ausgenutzt. Doch nicht nur Darstellungen der Venus sollten dazu dienen, bestimmte Vorstellungen von Venedig mit Blick auf die Eigenschaften antiker Götter zu evozieren, sondern der gesamte Kanon der griechischen und römischen Sagenwelt wurde zitiert, um einmal mehr die außergewöhnliche Stellung der Serenissima zu unterstreichen.
Ein weiterer wichtiger Bereich, den Rosand zum Thema macht, ist der Markuskult der Republik Venedig, der sich unter anderem in den zahleichen Markuslöwen niederschlug, die man nicht nur in Norditalien, sondern im ganzen Mittelmeerbereich in ehemaligen Handelsstützpunkten der Republik bis zum heutigen Tag finden kann. Diesem Aspekt der Verehrung des Evangelisten Markus in Mittelalter und Früher Neuzeit und seiner Bedeutung für die Lagunenstadt geht Corinna Fritsch in ihrer Dissertation näher nach. Das Ergebnis ist ein sehr instruktives und fundiertes Buch, das sich zudem auch noch sehr gut lesbar und theoretisch ausgereift präsentiert.
Im Anschluss an Ernst Cassirer formuliert Fritsch einen Begriff des politischen Symbols, der im Rahmen der Untersuchung des Markuskults vor allem dazu dienen soll, das Verständnis für die Prozesse der Gemeinschafts- und Sinnkonstituierung zu schärfen (wobei Fritschs Begriffsdiskussionen von Kult, Ideologie, Mythos etwas auszuufern drohen). Zentrale Funktion politischer Symbole ist es in dieser Hinsicht, nach innen legitimierend zu wirken, innerhalb der Gemeinschaft Identität zu stiften und gegenüber anderen Gruppen eine Exklusion zu markieren. Genau diese Funktion, so die These von Fritsch, übernimmt im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Venedig an zentraler Stelle der Kult um den Evangelisten Markus. Denn mit der "translatio sancti Marci", also der sagenhaften Überführung (oder besser: Entführung) des Heiligen von Alexandria nach Venedig durch venezianische Kaufleute im Jahr 827/828, hat sich Venedig seinen eigenen Ursprung gegeben. Der heilige Markus wird aber nicht nur zum Schutzpatron der Stadt und zum Objekt der Verehrung, sondern zum Zentrum der kollektiven Identität Venedigs.
Neben den venezianischen Legenden um den heiligen Markus sind es insgesamt vier Beispiele, an denen Fritsch diese Bedeutung des Evangelisten für die Stadt belegt. Mit den Ritualen der Wahl und der Investitur des Dogen vollzog und verdeutlichte die Stadt eine Emanzipation gegenüber den beiden mittelalterlichen Großmächten, dem östlichen und dem westlichen Kaiserreich, die ihren Anspruch auf Venedig erhoben. In entsprechenden Prozessionen wurde die Vorstellung erweckt, die Einsetzung des Stadtoberhaupts sei direkt durch den Evangelisten Markus vollzogen worden, weshalb der Doge sich als sein Sachwalter auf Erden und als von Gott gewählter Stellvertreter präsentieren konnte. Der heilige Markus wurde damit nicht nur zum Träger venezianischen Bewusstseins, nicht nur zur Verkörperung der Stadtautonomie, sondern wurde als eigentlich Handelnder hinter der aristokratischen Führungsschicht vorgestellt.
Visualisiert wurde dieser Markuskult als Staatskult vor allem auf Fahnen, Münzen und Siegeln. Dort tauchte der Heilige oder sein Symbol, der Löwe, in vielfacher Form auf und wurde somit, wie auch die Markuskirche, zu einem ständig präsenten Dokument des Selbstverständnisses der Lagunenstadt. In der Liturgie von San Marco findet sich die Rolle des Heiligen für die Stadt schriftlich fixiert. Im gemeinsamen religiösen Handeln des Gottesdienstes erfuhren sich die Beteiligten als Sozialverband mit einer identischen Eigenkonzeption. In Zeiten der Bedrohung, der irritierenden Vielfalt und des drohenden Orientierungsverlustes schafften es die liturgischen Texte, über eine Einheit des Kalenders, der Sprache, der Gestik und der Symbolik eine gemeinsame Semantik ethischer und moralischer Werte zu erzeugen. Neben Dogeninvestitur, Visualisierung und Liturgie waren es schließlich noch die Patrozinien der Markuskirche außerhalb Venedigs, die die Bedeutung des Evangelisten für Venedig nicht nur untermauerten, sondern auch im Mittelmeerraum verbreiteten. Fritsch hat mit dieser Arbeit eindrücklich belegt, inwiefern ein kulturhistorischer, mit dem Symbolbegriff arbeitender Ansatz zu tief reichenden Einsichten führen kann. Daran ließe sich ohne Zweifel ein Beispiel nehmen, das für ähnlich gelagerte Fälle europäischer Mythen durchaus wiederholt werden könnte und sollte.
Achim Landwehr