Wolfgang Hindrichs / Uwe Jürgenhake / Christian Kleinschmidt: Der lange Abschied vom Malocher. Sozialer Umbruch in der Stahlindustrie und die Rolle der Betriebsräte von 1960 bis in die neunziger Jahre, Essen: Klartext 2000, 213 S., ISBN 978-3-88474-892-3, EUR 12,80
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Die industrielle Gesellschaft ist über ihn hinweggegangen. Verschwunden ist er, allenfalls noch präsent in vergilbten Familienalben oder bei Seniorentreffen der Arbeiterwohlfahrt in Dortmund oder Herne. Der "Malocher", jener schwerstarbeitende, schwitzende und verrußte Stahlkocher und Hochofenarbeiter, der über ein Jahrhundert das Bild der Industriegesellschaft prägte - ihn gibt es nicht mehr.
420.000 Beschäftigte waren noch 1960 in der westdeutsche Stahlindustrie beschäftigt, davon 355.000 Arbeiter. Von dem einstmals bedeutenden volkswirtschaftlichen Gewicht war Mitte der Neunzigerjahre nicht mehr viel übrig geblieben: Lediglich noch 120.000 Menschen verdienten ihr Geld mit der Stahlherstellung, davon bundesweit nur mehr 75.000 "Malocher". Aber nicht das Gesicht der Stahlindustrie, sondern auch das Profil der Arbeiter in der Schwerindustrie selbst veränderte sich grundlegend. Berufliche Ausbildung, Herkunft, Sozialisation - aus dem Arbeitertyp "Malocher" war ein in weiten Zügen individualisierter Arbeitnehmer geworden, dessen Selbstdeutung sich in immer geringerem Maße an der Körperlichkeit der eigenen Arbeit orientierte. Mehr noch: "Der lange Abschied vom Malocher", den eine interdisziplinäre Ruhrgebietsforschergruppe aus Historikern und Soziologen nachzuzeichnen versucht, ist ein wichtiger Indikator für den rasanten sozialen und wirtschaftlichen Wandel der westdeutschen Nachkriegsdemokratie und zugleich Ausdruck des schwierigen Übergangs von der industriellen in die postindustrielle Gesellschaft. Vor allem die sozialgeschichtlichen Aspekte dieser Entwicklung sind nach wie unzureichend untersucht.
Die Autorengruppe hat sich dafür in Anlehnung an das LUISIR-Projekt von Lutz Niethammer und Alexander von Plato für einen oral-history Zugriff entschieden. Insgesamt 20 Betriebsräte, die in den siebziger und Achtzigerjahren führende Funktionen in der Eisen- und Stahlindustrie ausübten, wurden interviewt und die Untersuchung ihrer Lebens- und Betriebsgeschichte eingebettet in eine allgemeine Strukturanalyse der Stahlindustrie und Mitbestimmungsgeschichte seit den Fünfzigerjahren. Im Zentrum stehen also Experteninterviews mit führenden betrieblichen Arbeitnehmervertretern, in der Regel aktive Gewerkschafter, die zugleich in der traditionellen Ruhrgebiets-SPD beheimatet sind. Dabei gilt das Interesse der Forscher - wie bei einigen anderen Projekten dieser Art zuvor - der Frage nach der Wahrnehmung und Deutung technischen Wandels und der Bedeutung und unternehmenskulturellen Prägekraft der betrieblichen und überbetrieblichen Mitbestimmung.
Die Interviews zeigen, wie stark Betriebsräte - in ihrer rückschauenden Selbstwahrnehmung - in die unternehmerischen Felder der Arbeitsorganisation, Arbeitsgestaltung, Arbeitssicherheit, Lohn- und Zeitfragen und auch die Ausbildung und Qualifikation eingriffen. Mit der Einführung der Mitbestimmung konnten sie ihren Spielraum erweitern und im Vergleich zu anderen Branchen einen deutlichen Machtzuwachs verzeichnen. Betriebsräte übernehmen besonders in Krisenzeiten - und diese sind seit Mitte der Siebzigerjahre beinahe der Regelzustand - oftmals die Funktion eines "Ko-Managers", für den die "Abwicklungen von Entlassungen und Sozialplänen inzwischen zum Alltagsgeschäft geworden ist (87).
Mitbestimmung bedeutete Mitverantwortung, und das auch in Zeiten, in denen Arbeitsplatzabbau auf der Tagesordnung stand. Die Vorstellung, besonders für das eigene Unternehmen verantwortlich zu sein, schlug sich bei den Betriebsräten auch in ihrem Verhältnis zur Technik nieder. Keineswegs sperrte man sich gegen technologischen Wandel, bedeutete er doch für die befragte Betriebsratsgeneration die Chance zur Positionierung auf dem Stahlmarkt und damit eine Sicherung von Arbeitsplätzen. Allerdings deuten die Gespräche auch die unterschiedliche Bandbreite möglicher Handlungs- und Gestaltungsspielräume auf der betrieblicher Ebene an. Deutlich wird, dass die Verhaltensmuster und die "Mikropolitik im Unternehmen" sich nicht allein über die Begriffe Zwang und Kontrolle, Widerstand und Regulierung beschreiben lassen. Nachdrücklich weisen die Autoren deshalb auf die Bedeutung des betrieblichen Eigenlebens, die personalen Beziehungen und die formellen und informellen betrieblichen Strukturen und Sozialbeziehungen hin, die das Verhältnis von Management und Belegschaft prägen.
Diese Ergebnisse sind freilich nicht ganz so neu. Spannend sind dagegen die Passagen, die versuchen, ein Portrait der "69er Betriebsräte" zu zeichnen. Damit sind die Arbeitnehmervertreter gemeint, die in den so genannten "wilden" Septemberstreiks von 1969 groß geworden und aktiv gewesen sind. Diese Septemberstreiks sind von der zeithistorischen Forschung bislang beinahe unbeachtet geblieben, obwohl sie ein wichtiger Seismograf für die feinen betrieblichen und gewerkschaftlichen Veränderungen und Spannungen am Ende der "Wirtschafswunderjahre" sind. Denn damals streikte eine neue Generation von Arbeitnehmern, die ihren Unmut gegen die mageren Abschlüsse der eigenen Gewerkschaft richtete, und die sich deutlich von ihren "Malocher"-Vätern abzusetzen versuchte.
In den betrieblichen Führungsgremien gab es am Ende der Sechzigerjahre generationelle Wechsel, und an die Spitze kamen nun die Kinder der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit, die mit der Erfahrung sozialer Sicherheit und Wohlstandmehrung aufgewachsen waren. Diese Generation geriet in den Sog der allgemeinen gesellschaftlichen Protestbewegung am Ende der Sechzigerjahre und formte ihr Aufbegehren betriebsspezifisch um. Geprägt durch sozialdemokratische und gewerkschaftliche Jugendorganisationen begehrten auch im Betrieb junge Funktionäre gegen die alten patriarchalischen Verhaltensmuster, nicht nur der Meister und Lehrherren, sondern auch gegen die eigene gewerkschaftliche Führung auf. Die Interviews verdeutlichen diesen eruptiven Ausbruch und öffnen den Blick für ein bislang noch kaum geschriebenes Kapitel des sagenumwobenen Jahres 1968.
Doch so eindringlich dieser Teil des Projekts zu helfen vermag, einen wichtigen Teil der westdeutschen Sozialgeschichte zu erfassen, so unklar bleibt eine der Kernfragen des Projekts: der "lange Abschied vom Malocher". Die Autoren datieren ihn - mit leichter Hand und ohne ausreichende Begründung - in die Jahre um die Ölkrise und machen dafür die weltweiten ökonomischen und technischen Veränderungen und die Arbeit der Betriebsräte für die "Humanisierung der Arbeitswelt" verantwortlich: "Gewählt von den Malochern und gestützt auf ihre Vertrauen mit dem Auftrag, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, haben diese Betriebsräte an der Beendigung der körperlichen Schwerarbeit in der Stahlindustrie mitgewirkt und den langen Abschied vom Malocher unter schwierigsten Bedingungen mitgestaltet - aber sie wollten die Maloche abschaffen, nicht den Malocher" (176). Das ist ein origineller Schluss. Allerdings erfährt man kaum etwas über den vermeintlichen Untersuchungsgegenstand.
Der "Malocher" bleibt farblos. Die Autoren lassen ihn nicht selbst zu Worten kommen. Wesentliche Dimensionen des Abschieds von der Proletarität werden so nur durch die Brille der Betriebsräte betrachtet - was mit Sicherheit nicht ausreichend ist, um den "langen Abschied" erklären zu können. Titel und Begriff führen also auf eine falsche Spur und sind deshalb wohl nicht angemessen, den eigentlichen Gegenstand zu erfassen. An der Schlüsselrolle der Betriebsräte für die Krisenbewältigung der Stahlkrise und ihren Erfolg einer "basisorientierten Interessenvertretung" kann es kaum einen Zweifel geben. Dies noch einmal nachdrücklich unterstrichen und einige neue Themenfelder wie "68 und Betrieb" aufgedeckt zu haben, ist verdienstvoll. Aber nicht nur die Enkel der Stahlkocher aus Dortmund oder Herne dürften zum Schluss das Buch etwas ratlos aus der Hand legen und noch einmal fragen: Wie war das nun genau mit dem "langen Abschied vom Malocher"?
Dietmar Süß