Christian Kleinschmidt (Hg.): Kuriosa der Wirtschafts-, Unternehmens- und Technikgeschichte. Miniaturen einer "fröhlichen Wissenschaft", Essen: Klartext 2008, 252 S., ISBN 978-3-89861-969-1, EUR 22,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Michael Wobring: Die Globalisierung der Telekommunikation im 19. Jahrhundert. Pläne, Projekte und Kapazitätsausbauten zwischen Wirtschaft und Politik, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005
Lorraine Daston (ed.): Things that talk. Object Lessons from Art and Science, New York: Zone Books 2004
Wolfgang Schieder / Achim Trunk (Hgg.): Adolf Butenandt und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Wissenschaft, Industrie und Politik im "Dritten Reich", Göttingen: Wallstein 2004
Während Friedrich Nietzsche in seinem 1882 erschienenen Buch "Die fröhliche Wissenschaft" eher ernste philosophische Probleme thematisierte, zielt die vom Marburger Wirtschafts- und Unternehmenshistoriker Christian Kleinschmidt herausgegebene Sammlungen von 47 essayistischen Miniaturen in der Tat darauf ab, die unterhaltsamen Seiten der häufig als sperrig, ja "dröge" geltenden Wirtschafts-, Unternehmens- und Technikgeschichte aufzuzeigen. Die insgesamt 41 Autoren wurden vom Herausgeber angehalten, Kuriosa im Sinne von Merkwürdigkeiten und Skurrilitäten aufzuspüren, die unterhaltsam sein, in ihrem Verfremdungseffekt zugleich aber in die tieferen Schichten historischer Analyse vordringen sollten. Der Lustgewinn auf dem Weg zu einer fröhlichen Wissenschaft sollte die Autoren zudem dazu veranlassen, über die Chancen und Grenzen des eigenen Fachs nachzudenken. Das Aufbrechen der gerade in der deutschen Wissenschaftskultur zutiefst verankerten Schwere und Ernsthaftigkeit von Wissenschaft führt zu einem gesteigerten Lesevergnügen und höheren Unterhaltswert, und zugleich kann es einen Mehrwert an Erkenntnis und Selbstreflexivität erbringen - das ist der doppelte Anspruch von Herausgeber und Autoren, an dem sich der Band messen lassen muss.
Die Beiträge sind in vier, in sich chronologisch gegliederte Kapitel aufgegliedert: Die Kapitel "Produktion, Technik und Innovation" sowie "Mentalitäten, Personen, personelle Beziehungen" machen mit 18 bzw. 17 Beiträgen den Löwenanteil des Bandes aus. Das Kapitel "Internationalität, Interkulturalität" vereint 8 und der abschließende Teil "Werbung und Marketing" gerade einmal noch 4 Beiträge. Die Akzentuierung der Produktionsdimension von Wirtschaft und Technik gegenüber der Nutzungsdimension ist kein Zufall. Sie spiegelt die epistemische Entwicklung der Fachkulturen der Wirtschafts-, Unternehmens- und Technikgeschichte ebenso wider wie die nach wie vor dominierende Betrachtung des nationalen Raumes. Die Trans- und Internationalität als Perspektive hat in den letzten Jahren ohne Zweifel an Bedeutung gewonnen, und Konsum und Marketing beginnen, sich im Forschungsspektrum der drei Fächer endlich den Stellenwert zu erobern, der ihnen aufgrund ihrer überragenden Rolle für die moderne, von Dienstleistung, Konsum und Wissen geprägten Gesellschaft längst hätte zukommen sollen. Insofern mag man es als Gewinn verbuchen, dass der Band für diese beiden Bereiche eigenständige Kapitel vorgesehen hat. Deren unterschiedliche Gewichtung repräsentiert aber die aktuellen Fächerkulturen.
Was ist mir als Rezensenten, der sich beim vor- und zurückblätternden Lesen der Kuriosa von der "curiositas" leiten ließ, die von den Titeln der Einzelbeiträge ausgeht, im Gedächtnis geblieben? Am Artikel "Vom preisgekrönten Eber Berthold, der Zuchtsau Edith und anderen Viechern" (Host A. Wessel), der die Geschichte eines Gutsbetriebs erzählt, der die Wiesen und Äcker eines zum Mannesmann-Konzern gehörenden mittelrheinischen Erzbergwerks bewirtschaftete, überrascht, dass ein High Tech-Konzern sich auch mit Viehzucht beschäftigte und die Akten dieses gewiss nicht zu dessen Kerngeschäft gehörenden, vielfach preisgekrönten "Muster-Bauers" aufbewahrte. Zum Schmunzeln hat mich diese kuriose Geschichte ohne Zweifel gebracht, aber ein Mehrwert an wirtschafts- und technikhistorischer Erkenntnis ist schon aufgrund der fehlenden Fragestellung des Beitrags nicht erkennbar.
An der Oberfläche erhöhten Faktenwissens verbleibt auch der Artikel "'Hugh!' Reichswehrexperten und die Indianerverehrung in der US Army" (Michael Wala). Hier erfahren wir etwas über die Industrie- und Militärspionage deutscher Offiziere in den USA nach dem Ersten Weltkrieg und deren kuriose Rezeption amerikanischer Kultur. Den Versuch amerikanischer Offiziere, ihre deutschen Kollegen hochleben zu lassen, nahmen diese vor dem Hintergrund ihrer Lektüre der romantisierenden Reiseliteratur im Stile James Fenimore Coopers "Lederstrumpf"-Bände lautmalerisch als "Hoogh" wahr und deuteten ihn als bleibende Hochachtung der "Indianer" im amerikanischen Offizierscorps. Für die Frage nach der Rezeption der Native Americans im Deutschland der Zwischenkriegszeit mag diese Geschichte von einer gewissen, wenn auch marginalen Relevanz sein. Mehr aber leistet der Beitrag nicht.
Um Trinkkulturen geht es auch in dem Artikel "Fritz Berg, Konrad Adenauer und die 'Bergfeste'" (Werner Bührer), der die feucht-fröhlichen Herrenabende des langjährigen BDI-Präsidenten Fritz Berg thematisiert, die nicht selten in Saufgelage mündeten. Dass Trinkfestigkeit in der männlich-paternalistisch geprägten Wertehierarchie von Unternehmern einen vorderen Platz einnahmen, wirft immerhin ein helles Licht auf die Mentalität deutscher Wirtschaftseliten und ermöglicht vertiefte Einblicke in die Kultur der bundesdeutschen Nachkriegsjahrzehnte.
Bei der Lektüre des Beitrags "Historische Innovationsforschung zwischen Plastikrädern und Radaröfen" (Reinhold Bauer) hält sich das Lesevergnügen in Grenzen. Der Kuriositätscharakter fehlgeschlagener Innovationen wie Lastrohrflöße für die Binnenschifffahrt oder ein neuartiger Video-Disc-Player des amerikanischen Unterhaltungselektronikkonzerns RCA ist gering. Umso größer ist aber der Erkenntnisgewinn, den der Beitrag in methodisch-analytischer Perspektive bietet, denn die Untersuchung wirtschaftlich-technischer Flops schärft den Blick für die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Einflussfaktoren des technischen Wandels.
Wie sich Lesespaß und Erkenntnisgewinn elegant verknüpfen lassen, demonstrieren die beiden aufeinanderfolgenden Beiträge "Das flüssige Gold der Landwirtschaft" und "Max, der Traktor". Die zwei Büchlein aus dem Genre der landwirtschaftlichen Ratgeberliteratur aus den 1950er-Jahren zur Güllewirtschaft einerseits und zu Rationalisierungspotenzialen durch den Schleppereinsatz andererseits erweisen sich als famose Funde für eine Wissensgeschichte der Landwirtschaft in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, und ihre süffisant präsentierte Interpretation durch Frank Uekötter ist ein großer Spaß.
Hier wird der doppelte Anspruch des Herausgebers für einmal vorbildlich eingelöst: Lesefreude verbindet sich mit Erkenntnis zu einer "fröhlichen Wissenschaft". In vielen Beiträgen aber bleibt eines der beiden Ziele auf der Strecke. Entweder werden Kuriosa um ihrer selbst willen präsentiert, oder die analytische Tiefenschärfe geht auf Kosten narrativer Leichtigkeit. Gleichwohl: Für den Mut, das Wagnis eines solches ungewöhnlichen Bandes eingegangen zu sein, ist Herausgeber und Verlag mit Nachdruck zu danken.
Helmuth Trischler