Rezension über:

Ludolf Pelizaeus: Der Aufstieg Württembergs und Hessens zur Kurwürde 1692-1803 (= Mainzer Studien zur Neueren Geschichte; Bd. 2), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2000, XVI + 644 S., 28 Abb., 13 Tab., 19 Grafiken, 10 Kart., ISBN 978-3-631-35503-9, EUR 75,70
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Rezension von:
Alexander Jendorff
Gießen
Redaktionelle Betreuung:
Sven Externbrink
Empfohlene Zitierweise:
Alexander Jendorff: Rezension von: Ludolf Pelizaeus: Der Aufstieg Württembergs und Hessens zur Kurwürde 1692-1803, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2000, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 3 [15.03.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/03/3787.html


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Ludolf Pelizaeus: Der Aufstieg Württembergs und Hessens zur Kurwürde 1692-1803

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Die Dissertation will aufzeigen, dass es den württembergischen und hessischen (Kassel und Darmstadt) Kurfürsten-Kandidaten nicht allein um die Erlangung rein zeremonieller Vorteile ging, sondern sie damit einen internationalen Aufstieg verbanden. In Anlehnung an Volker Press setzt er das "Kurstreben" mit der konsequenten Politik der Bedeutungssteigerung im Reichsverband und im internationalen System gleich (4). Der Autor hinterfragt die Motivation und die Effekte dieses Kurstrebens. Dabei stehen für ihn nicht die einzelnen Verhandlungsschritte, sondern der Gesamtprozess im Vordergrund, insbesondere die Verhandlungsführung durch die territorialen Eliten. Pelizaeus verbindet diesen Ansatz mit der "reizvolle[n] Fragestellung nach dem Warum des Aufstiegs und der Präfiguration des Zusammenbruchs" (3) nach 1806. Seine Ergebnisse sind "relativ und vergleichend zu verstehen"(4).

Pelizaeus stellt zunächst "strukturelle Gründe für das Kurstreben" dar. Die Kurwürde versprach sowohl standespolitische Aufwertung als auch Vorteile wie etwa das privilegium de non appellando illimitatum (28-38). Diesen Aufstiegsversuch zu europäischer Bedeutung unternahmen auch andere Territorien, die als Kandidaten für die Kurwürde gehandelt wurden. Die Diskussion um die Kurwürdigkeit der Kandidaten verfolgt Pelizaeus anhand landeseigener und reichischer Quellen (58-74).

Das reale Potenzial der drei Kurprätendenten untersucht der Verfasser in Kapitel 3. Neben der geografischen Lage, der Größe und den Beziehungen zum Reich und zu den auswärtigen Mächten stehen für ihn dabei auch die Regenten und deren Minister, Gesandten und Räte im Blickpunkt, vornehmlich die Frage nach der institutionellen Organisation von "Außenpolitik", ihrer Konzeptionalität und des Verhältnisses zwischen Fürsten und Ministern.

Als Ergebnis der Darstellung des Fallbeispiels Württemberg in Kapitel 4 stellt Pelizaeus die zentrale Rolle Wiens heraus. Erst mit der Verpflichtung Frankreichs, das Anliegen zu unterstützen, konnte sich auch Wien nach 1750 zu einer freundlicheren Haltung durchringen, weil man von Württemberg eher eine prohabsburgische Politik erwarten durfte als vom preußenfreundlichen Hessen-Kassel. Den entscheidenden Durchbruch konnte Württemberg mit dem Eingreifen Russlands 1784/85 verbuchen, das sich für die Schaffung von zwei weiteren Kuren einsetzte. So positiv dies war, so sehr erwies sich, dass die Diskussion um die Kuren zu einem europäischen Politikum und damit Württemberg zum Spielball der europäischen Mächte geworden war.

Denn der Preußenkönig unterstützte den württembergischen Konkurrenten in Kassel, wie Kapitel 5 ausweist. Das Kasseler Kurstreben begründete sich in der Opposition gegen die Kurerhebung Hannovers. Landgraf Karl befürchtete eine Hegemonie der Kurfürsten im Reich (303). War Wien zunächst den hessischen Wünschen gegenüber nicht abgeneigt, so bedeutete der Konflikt um das Hanauer Erbe eine Blockade. Das kurze wittelsbachische Intermezzo änderte nichts. Daraus resultierte eine völlige Anlehnung Kassels an Preußen, das den hessischen Gefolgsmann für die eigenen politischen Interessen instrumentalisierte. Die "Blindheit" Kassels und die bedingungslose Anlehnung an Berlin resultierte wohl auch aus der Tatsache, dass Großbritannien die Landgrafen als Konkurrenten Hannovers betrachtete, die geistlichen Kurfürsten aus Kasseler Sicht nur käufliche Mitspieler waren und Frankreichs Verhalten äußerst ambivalent, nach 1798 wegen der einseitig propreußischen Haltung des Landgrafen ablehnend war. So konnte es nach Ansicht des Verfassers nicht überraschen, dass Kassel 1803 über die Kurerhebung und bescheidene Gebietsgewinne froh sein musste.

Ganz anders gestaltete sich die Entwicklung Hessen-Darmstadts. Ein selbständiges Kurstreben entwickelte sich erst zum Ende des 18. Jahrhunderts, als Frankreich sich von Kassel abwendete. Darmstadt konnte von den Vorgängen in mehrfacher Weise profitieren, ja es konnte in jedem Fall nur profitieren. Denn auf Grund der hessischen Hausverfassung nutzte die Kurerhebung Kassels auch Darmstadt. Zwar blieb dem kleineren hessischen Territorium die Kurerhebung versagt, dagegen standen am Ende der Revolutionskriege erhebliche territoriale Zugewinne und schließlich auch die Erhebung zum Großherzogtum. Zentral erwies sich dabei die Fähigkeit des Darmstädter Kabinetts, ein Bündnis mit Napoleon zu Stande zu bringen.

In seinem Schlusswort hebt Pelizaeus die europäische Dimension des Strebens nach der Kurwürde hervor. Zwar habe dieses Streben den Prätendenten nur bescheidene Gewinne gebracht, aber wesentlich zur Ausbildung eines leistungsfähigen Apparates für die Außenpolitik beigetragen. Dies sei nötig gewesen, weil Rangerhöhung und Territorialzuwachs seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zu einer Überlebensfrage geworden seien. Daher sei auch das Mittel der Rückversicherung bei den europäischen Großmächten von zentraler Bedeutung für die Kurprätendenten gewesen. Als entscheidend sieht Pelizaeus das Eingreifen Russlands, ein Einschnitt, der den Internationalisierungsgrad der Reichspolitik widerspiegelt.

Pelizaeus arbeitet in seiner Studie, die eine Forschungslücke gefüllt hat, die Prozesshaftigkeit des Kurstrebens auf der Basis umfangreicher Archivrecherchen akribisch heraus. Dabei erscheinen die Zusammenfassungen am Ende eines jeden Kapitels besonders vorteilhaft, fordert doch die inhaltliche und sprachliche Argumentation die volle Aufmerksamkeit des Lesers während der Lektüre. Allerdings drängen sich dabei folgende Überlegungen auf:

Erstens: Der Autor verfolgt einen komparatistischen Ansatz. Die Einzelergebnisse werden jedoch in kein Verhältnis zueinander gesetzt. Sie werden auch nicht genutzt, um aus ihnen weitergehende strukturgeschichtliche Rückschlüsse zu ziehen. In welchem Verhältnis Reichs- und Großmächtepolitik aus Sicht der Kurprätendenten zueinander standen, bleibt ebenso undiskutiert wie die Frage, wie ernsthaft die sich an den Erhalt der Kurwürde anschließenden Reichsreformpläne der Neukurfürsten (547) verfolgt wurden.

Zweitens: Weiterhin diskussionsbedürftig erscheint auch die Rolle der territorialen Eliten, die in der Einleitung als besonders untersuchungswürdig erwähnt werden. Zwar wird das Verhältnis zwischen den Fürsten und ihren Ministern, Räten und Diplomaten analysiert. Die Rolle dieser Politikeliten während des Kurstrebens geht daraus jedoch nicht hervor, zumal ein wichtiges Kapitel der Dissertationsfassung zum diplomatischen Alltag aus der Druckfassung herausgenommen wurde (9f.). Lässt sich überhaupt eine bestimmte Rolle der territorialen Eliten im Kurstreben erkennen? Nimmt man das Beispiel Württembergs, müsste man eher zur Auffassung gelangen, dass die realen Verhältnisse den theoretischen Annahmen des Autors entgegenstanden.

Drittens: Auch hinsichtlich der Frage nach den Effekten des Kurstrebens gewinnt man keine Klarheit. Zwar präsentiert Pelizaeus einige Einzelnachweise, die jedoch nur wenig Licht ins analytische Dunkel bringen. Gab es vielleicht gar keinen anderen Effekt des Kurstrebens als den des Kurerwerbs? - Dann bliebe die vom Verfasser eingangs gestellte Frage nach dem 'Warum' unbeantwortet. Oder ist der Kurerwerb als Überlebensgarantie zu deuten? - Dann wären weitere Erläuterungen zum Kasseler Schicksal nötig gewesen. Hier vermisst man die Einlösung des komparatistischen Anspruchs umso mehr.

Viertens: Dies gilt ebenso für die Untersuchung der im Reich geführten Diskussion über die Kurprätendenten. Pelizaeus beschränkt sich auf die literarische Ebene. Kann dies genügen oder muss dies als Ausweis für die weitgehende Internationalisierung des Prozesse gewertet werden? Wenn nicht, wären entsprechende Bewertungen von anderen Reichsständen bedeutsam gewesen.

Fünftens: Dies um so mehr, weil der Autor zwar einerseits stets die Bedeutung der europäischen Großmächte für das Kurstreben hervorhebt, andererseits jedoch das in der Dissertation erscheinende Kapitel über die Haltung der Großmächte zur Bedeutung der Kurwürde für die Druckfassung gestrichen hat (2, 9f.). Es wäre jedoch angesichts der inhaltlichen Konzeption wichtiger als andere Details - etwa zur Lesbarkeit bestimmter Handschriften - gewesen.

Sechstens: Schließlich können dem Leser auch nicht zahlreiche Fehler im Text verborgen bleiben, die um so ärgerlicher sind, wenn sie - wie bei Burgdorfs Arbeit zu den Reichskonstitutionen - einen zentralen Autor betreffen, der zitiert, nicht aber im Literaturverzeichnis aufgenommen wurde.

Alexander Jendorff