Marcus Sandl: Medialität und Ereignis. Eine Zeitgeschichte der Reformation (= Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen; Bd. 18), Zürich: Chronos Verlag 2011, 598 S., einige s/w-Abb., ISBN 978-3-0340-1018-4, EUR 55,50
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Die Frage, was die Reformation ist, kann als eine ununterbrochene, zu jeder Zeit unterschiedlich beantwortete, aber eben auch unterschiedlich beantwortbare Frage verstanden werden. Sie wird demnach viele Antworten erfahren. Hier liegt Sandls Ansatz: die Unmöglichkeit einer linearen, objektiven Geschichtsschreibung der Reformation. Er hinterfragt die Kirchengeschichtsschreibung mit dem Blick darauf, eine Geschichte der Reformation überhaupt schreiben zu können. Damit verbunden ist sein - an Heinz Schilling personifizierter- Angriff auf ein zentrales Intepretament der modernen Forschung: die Modernisierung, die sich mit der Reformation und dem sich anschließenden Konfessionalisierungsgeschehen verbindet.
Sandls Auffassung nach habe die Reformation vielmehr ein "Spiel von Differenzen zwischen Gotteswort und Welt, Subjekten, Medien und Ereignissen, in dem sich das Verhältnis von Wahrheit und Geschichte veränderte" (517), initiiert, deren Teil die spätere protestantische Theologie ebenso gewesen sei wie die nachfolgende Geschichtsschreibung bis in unsere Tage. Unter Rekurs auf Ernst Troeltsch greift Sandl entsprechend das momentane Reformationsverständnis an, das seiner Meinung nach die Reformation zugunsten makrostruktureller Gesellschaftsprozesse gleichsam abschaffe und mittels des Modernisierungskonzeptes innerhalb der postmodernen Historiographie eine Art Legitimation der Modernität - nicht der Moderne! - betreibe (35f.).
Im Gegensatz dazu rückt Sandl die Frage nach dem Modus, konkret die "ihr immanente Prozesshaftigkeit und Dynamik" (39), in den Blick. Entsprechend begreift er das zeitgenössische Reformationsverständnis als geprägt durch einen bewussten Traditionsbruch, der zugleich einen Akt der Selbstbeschreibung und Selbstwahrnehmung dargestellt und in dem sich neue Formen des Verständnisses von Zeit und Geschichte herausgebildet habe, die fortan für das protestantische Selbstverständnis fundamental gewesen sei. Es handelte sich demnach nicht um den einfachen Wechsel von theologischen Dogmen, sondern von Betrachtungsweisen der Welt.
Indem Sandl die Reformation aus sich selbst und ihrer Zeit heraus zu erklären versucht und konsequent Theologie als Medium der Bewegung begreift, konzipiert er seinen erkenntnistheoretischen Problemaufriss. So stellt er zur Disposition, von welchem Punkt aus eine Zeitgeschichte der Reformation eigentlich geschrieben werden kann, wenn der Bewegung eine innere Entwicklung zugrunde liegt, bei der sich Verstehensweisen und Deutungsweisen verschoben und das später Gesagte nicht mehr dem zuvor Gesagten entsprach, sich auf dieses aber bezog, seine Legitimation nahm und Kontinuität stiftete.
So setzt Sandl an die Stelle einer Kohärenzierung der Reformations- und Konfessionalisierungsentwicklung bestimmte Bewegungsprinzipien und Ideen wie die der Ereignishaftigkeit von Geschehen ( 35ff.). Seiner Auffassung nach erhielt die Reformation die Qualität eines Epochenbruchs mit der Profilierung einer (angeblichen) Differenz zwischen scholastischer Theologie und Heiliger Schrift sowie mit dem Bruch des Zeitverständnisses nun als Modus der Veränderung. Mit der Wende gegen die scholastische Dogmatik habe sich eine neue Struktur der Erkenntnisbildung herauskristallisiert, die auf dem Erkennungsereignis beruhe und einen stets neuen Akt der Erkenntnisbildung als permanenten Prozess kenne (42f.). So habe sich die Reformation als historisches Ereignis selbst konstituiert, nicht nur mit Luthers Thesenanschlag, sondern auch in den (innerprotestantischen) Entwicklungen der folgenden Jahrzehnte (44f.). Diese müssen - wie es Sandl nennt - als Reflexivität des Historischen, d.h. als Selbstverhältnis des Diskurses, des Medialen und des Ereignishaften verstanden werden (48-63).
Sandls Konstanzer Habilitationsschrift liegt ein medientheoretischer Zugang zum Reformationsgeschehen zugrunde, der mit Begriffen wie Ereignis, Geschehen oder historischer Reflexivität arbeitet. Sie stellt letztlich keine genuin reformationsgeschichtliche, sondern eine soziologisch-mediengeschichtliche Arbeit dar, die sich in ihren verschiedenen Kapiteln an Luthers Auseinandersetzungen mit der scholastischen Theologie, an seiner bewussten Wandelbarkeit, an den Reichstagen von 1521 und 1530, an der Formulierung des Augsburger Bekenntnisses und an den anschließenden innerprotestantischen Konflikten abarbeitet. Auf diese Weise gewährt er Einblicke in das Reformationsgeschehen als Prozess der permanenten Bedeutungsherstellung und Aktualisierung. Dass sich die Reformation auf der Basis der lutherischen Erkenntnis immer wieder neu erfand, ist zwar gewiss nichts Neues; neu ist aber die Herausarbeitung ihrer gleichsam kollektiv- bzw. generationsindividualistischen Neuerfindung im Kontext einer Totalisierung der individuellen Interpretation.
Die Kritik an der jüngeren Reformations- und Konfessionalisierungsgeschichte erscheint durchaus plausibel. Gleichwohl, so kritisch-innovativ, wie sie daherkommt und für ihr Analysefeld sein mag, ist sie gewiss nicht. Unberücksichtigt bleibt, dass auf der Analyseebene der Umsetzung reformatorisch-konfessionalistischer Maßnahmen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Nahintention und Fernwirkung bzw. zwischen zeitgenössischer Reformabsichten, respektive Zielrichtungen und deren Interpretation durch die Bielefelder Schule doch große Unterschiede bestehen, die als solche längstens durch die jüngere Forschung konstatiert worden sind, wie dem Verfasser bewusst sein könnte. Zudem dokumentiert Heinz Schillings jüngst erschienene Luther-Biographie eindrucksvoll den weiten Weg der Bielefelder Schule [1]: von der Struktur zu Person und reformatorischem Ereignis, während Thomas Kaufmanns Studie zum Antijudaismus in den lutherischen Schriften für die Kirchengeschichtsschreibung Nämliches erweist. [2]
Dennoch eröffnen die von Sandl präsentierten Einzelbeobachtungen neue Verarbeitungsräume: So bleibt zu prüfen, inwieweit die mediale Wandelbarkeit Luthers mit den durch seine Lehre eröffneten Kategorien von Gewissen und Erfahrung korrelierte, die mit ihren zutiefst individualistischen bzw. individualisierenden Zügen herausragende Anknüpfungspunkte für ganz verschiedene Bevölkerungsgruppen boten. Allein der Niederadel konnte hierbei seine Ansprüche und sein Selbstverständnis widergespiegelt sehen; was einen nicht unerheblichen Hinweis für das durchaus wieder aufzugreifende Problemfeld von Adel und Reformation gibt. Gleichermaßen ließe sich die Frage stellen, ob in Zukunft eine traditionelle Dogmengeschichte überhaupt noch möglich erscheint oder ob sie nicht völlig in einer theologischen Geschichte der generationellen Erfahrung aufgehen muss.
Sandls Arbeitsprogramm ist erstaunlich, sowohl in der Tiefe wie auch in der Breite. Dass er dabei in umfänglichen Sinne auf die vorhandene Forschungsliteratur zurückgreift, erscheint selbstverständlich; dass er diese keineswegs ergänzt und die Reformationsgeschichte mit neuen Fakten-Einsichten bereichert, erscheint einleuchtend: Stattdessen erzählt er sie ja neu aus der Perspektive der theologischen Akteure und ihrer eigenen Welt, die die Differenz und gleichzeitige Verschränktheit von Theologie und Politik auswies!
In diesem Kontext erscheint es angemessen, auch die manchmal offensichtlichen Rückwirkungen des Erforschten auf den Forscher zu erwähnen, die sich in jenen Anmerkungen des Einleitungsteils zeigen, in denen die Forschungsliteratur ausgiebig zitiert wird, um den Wahrheitsgehalt einer interpretativen Aussage zu den Fakten zu belegen. So wird der Gegenstand der Studie gleichsam zu deren Arbeitsmethodik - was nicht als Negativum zu verstehen ist, aber nicht immer notwendig erscheint. Negativ allerdings erscheint der Schreibstil: Für Anhänger der erweiterten, dafür weniger prägnanten ciceronischen Satzperiode in Kombination mit der postmodernen soziologisierten Begriffsgalaxis dürfte Sandls Studie zweifellos nicht nur ein inhaltliches, sondern auch stilistisches Lesevergnügen sein. Für bescheidenere Gemüter - selbst für diejenigen, die sich in traditioneller wissenschaftlicher Weise eines elaborierten Wortschatzes und ebensolcher Syntax bedienen - ist sie dagegen zwar ein lohnenswertes, aber mithin mühsames Unterfangen, bei dem sich die Frage stellt, ob der Verfasser nicht am Ende doch der durch die Reformatoren verfemten Scholastiker und ihrer hermetischen, auf die Unveränderlichkeit der Dinge ausgerichteten Sprache verfallen ist.
Anmerkungen:
[1] Heinz Schilling: Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2012.
[2] Thomas Kaufmann: Martin Luther, München 2006; Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation, Frankfurt am Main / Leipzig 2009.
Alexander Jendorff