Günter Passavant: Wolf Caspar von Klengel (Dresden 1630-1691). Reisen - Skizzen - Baukünstlerische Tätigkeit (= Kunstwissenschaftliche Studien; Bd. 87), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2001, 472 S., 24 Farb-, 362 s/w-Abb., ISBN 978-3-422-06299-3, EUR 102,00
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In der aufwändigen Publikation erschließt sich ein großer Bestand an architektonischen Skizzen, die der kursächsische Artillerieoffizier und Hofarchitekt Wolf Caspar von Klengel hinterlassen hat. Die über 200 Zeichnungen, die sich in den mehr als vier Jahrzehnten seiner Berufs- und Reisetätigkeit angesammelt haben, liegen heute nicht mehr als geschlossenes Konvolut vor. Nach der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde der überwiegende Großteil verstreut in zahlreiche Foliobände eingefügt, die der württembergische Staats- und Kriegsminister von Nicolai als Teil einer nach Sparten geordneten, enzyklopädischen Materialsammlung angelegt hat (Württembergische Landesbibliothek Stuttgart). In kleineren Publikationen von Autoren wie Hempel, Mertens, Kieven und Passavant selbst waren diese Blätter bislang nur unzureichend publiziert.
Passavant widmete sich einer arbeitsintensiven Aufgabe, denn es galt nicht nur, die Autografe Klengels zu identifizieren, was auf Grund des charakteristischen Zeichenstils relativ unproblematisch ist. Der ebenso reiche wie verwirrend vielfältige Bestand war auch nach chronologischen und sachlichen Gesichtspunkten zu ordnen. Außerdem war zu unterscheiden zwischen freien Skizzen und solchen nach tatsächlich ausgeführter Architektur, wobei sich nur der kleinere Teil auf eigene Projekte Klengels bezieht. Ein wesentliches Ordnungsgerüst dafür bietet die Biografie, die Aufgaben, mit denen Klengel zu bestimmten Zeiten befasst war, und seine ständigen Reisen, die ihn nach Holland, England, Frankreich, Dalmatien, in die österreichischen Erblande und immer wieder nach Italien geführt haben. Daraus resultiert wohl der besondere Charakter der vorliegenden Publikation, die zugleich eine Edition des Skizzenmaterials bietet wie auch den Ansatz zu einer klassischen Künstlermonografie. In Klengels Skizzen dokumentiert sich der Lebensweg eines Architekten, von dem kaum Bauten erhalten sind. Umgekehrt werden die Skizzen durch ihre Einordnung in den künstlerischen Werdegang erklärt.
Der eigentliche Katalog der Zeichnungen - ergänzt um erhaltene Korrespondenz Klengels wie auch um eine Auswahl weiterer eigenhändiger Manuskripte - ist relativ knapp gehalten, denn diskutiert und beurteilt wird das zeichnerische Oeuvre im Hauptteil der Darstellung. Dessen 234 Seiten werden eingefasst von einem biografischen Kapitel und einem Resümee, welches die Skizzen mit den wenigen erhaltenen Bauten ins Verhältnis setzt. Dass 360 qualitativ hochwertige Schwarz-Weiß-Abbildungen - zusätzlich 24 gesonderte Farbtafeln - den Text begleiten und auch viele Vergleichswerke zeigen, unterstützt die Lektüre sehr.
Passavant thematisiert den Oberbegriff der architektonischen Skizze zwar nicht im allgemeinen, doch diskutiert er ausführlich Anlass, Machart und Darstellungsintention der einzelnen Zeichnungen, bei denen sich Grundrisse, orthogonale Aufrisse und perspektivische Innen- wie Außenansichten abwechseln. Abgesehen von echten Werkzeichnungen, die weitgehend fehlen, findet sich eine Fülle verschiedenartiger Darstellungen: Militaria und Ingenieursaufgaben, musterbuchartige Kompilationen architektonischer Gliederungs- und Zierformen, Vorstudien und Ideenskizzen für eigene Projekte, Fantasieentwürfe und Präsentationsblätter, Entwürfe für Quadraturmalerei und vor allem Reiseskizzen zur Dokumentation mustergültiger Lösungen anderer Architekten, wobei praktikable und aktuelle Lösungen bei weitem die berühmten Klassiker der Architekturgeschichte überwiegen. Der Fundus vermittelt eine Vorstellung davon, welchen großen Vorrat an Motiven, Ideen und Mustern sich ein deutscher Architekt in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erarbeiten konnte.
Gestützt auf seine eindrucksvolle Denkmälerkenntnis, konnte Passavant in vielen Fällen den Gegenstand der Zeichnung ermitteln. Kat. Nummer 57 entpuppt sich als die Wiedergabe einer aufwändigen Portalarchitektur an den Farnesianischen Gärten auf dem römischen Palatin, Kat. Nummer 191 als die Umsetzung des 'Funtanone del Mascherone' im ehemaligen Borghesegarten vor der Porta pinciana. Die rustizierte Architektur auf Kat. Nummer 197 ist die Wiedergabe einer mittlerweile längst verlorenen Perspektivmalerei der Quadraturmaler Colonna und Mitelli am Kasino des Kardinals Giovan de'Medici in den Orti Oricellari in Florenz. Gerade Spezialisten des italienischen Seicento könnten unter Klengels Zeichnungen noch interessante Bildquellen für ihre Untersuchungen finden und vielleicht weitere der Skizzen identifizieren.
Bei seinen bündigen Analysen achtet der Autor besonders auf den entwicklungsgeschichtlichen Stellenwert. Der Architekt Klengel gelangte immer wieder zu überraschenden Lösungen. Wären Werke wie Kat. Nummer 147 - eine Vorstudie für ein tatsächlich zur Ausführung vorgesehenes kurfürstliches Palais - oder Kat. Nummer 30 und 112 - detailliert durchgearbeitete Projekte für Mausoleen mit martialischer Rustizierung - zur Ausführung gekommen, hätten sie als Hauptwerke des Frühbarock ihren festen Platz in der Kunstgeschichte des Heiligen Römischen Reichs. Von besonderer Bedeutung sind Kat. Nummer 87 und 180, die eine Art von Justizpalast zeigen, weil sich hier "von der Idee her bereits manche der wichtigsten Treppenanlagen des 18. Jahrhunderts ankündigen", darunter die Typen von Würzburg und Pommersfelden. In der Beischrift formulierte Klengel sogar baukünstlerische Ziele, wie sie dort später realisiert wurden: "tutta trasparente sin al tetto luminoßi.ma". Verblüffend ist auch Kat. Nummer 106, der Grundriss eines 'großen Lustgebäudes', das bereits einen zentralen ovalen Mittelpavillon mit Saal, wie später zum Beispiel bei Fischer von Erlach, und ausgeprägte Kontraste zwischen den konvexen, konkaven und kantigen Baukörpern geboten hätte. Das sind eindrucksvolle Belege dafür, was in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts "bereits in den Köpfen Einzelner herumspuken konnte, die sich mit der Tendenz und dem Leistungsniveau der kulturell maßgebenden Kunstzentren ein wenig auskannten".
Solche Entdeckungen halten das Interesse wach, auch wenn die lange Reihe von Analysen Ausdauer des Lesers erfordert. Im Einzelnen sind nur wenige sachliche Berichtigungen nachzutragen. Den Modul der Säulenordnungen erläutert Passavant in Anmerkung 185 (76) mit der dorischen Ausnahme - halber Säulendurchmesser zu dreißig Minuten - und nicht mit dem Regelfall, wie ihn Klengel selbst auf der betreffenden Kat. Nummer 40 eingetragen hat: ganzer Säulendurchmesser zu sechzig Minuten. Die "Gaubenfenster" von Kat. Nummer 45 (91) saßen wohl nicht im Dachbereich, weil sie von Kapitellen oder von Friesformen des Gebälks eingerahmt werden - eine gängige Methode, Mezzaninfenster unterzubringen. Die gestrichelten Linien in Kat. Nummer 181 (113) markieren keine abgeschrägten Ecken, sondern vermutlich Zwischengewölbe mit eingefügten Stichkappenfenstern, welche von den Ecken des rechtwinkligen Saals zu einem achteckigen Plafond überleiten.
Auch Formulierungen in Vorwort und Resümee lassen erkennen, dass für den Autor der "entwicklungsgeschichtliche Standort" Klengels, sein "Hineinwachsen in einen eigenen Stil" und seine Bedeutung für die Entstehung des Dresdner Barock im Zentrum des Interesses stehen. Eher beiläufige Ausführungen Passavants lassen dem Rezensenten aber andere Aspekte noch wichtiger erscheinen: Fragen nach der Invention, dem künstlerischen Werkprozess und der kreativen Verwandlung von Vorbildern, zu deren Beantwortung die Skizzen wertvolles Material liefern. Hier erweist sich der zumeist nicht vollständig ausgeführte Zustand der Zeichnungen als Vorteil. So lässt sich bei der Palastfassade Kat. Nummer 4 der Entwurfsprozess wie in einem didaktischen Exempel in seinen einzelnen Schritten nachvollziehen. Auch die Gegenüberstellung von Vorbild und Zeichnung ist lehrreich, denn Klengel nahm fast immer interpretierende Veränderungen vor. So ist es bei der Skizze des Algardi-Altars in San Paolo Maggiore in Bologna (84), beim Fassadenaufriss von Palladios San Giorgio Maggiore (75/76) oder im Fall des Gartencasinos im Münchner Hofgarten (207), bei dem Klengel ganz eigene Themen entwickelt hat.
Gerade mit den zuletzt genannten Ansätzen bietet Passavants Buch nicht nur "eine neue breitere Grundlage für die Bewertung Klengels", sondern auch einen Beitrag, der über die Dresdner Architekturszene hinaus von allgemeinem Interesse für die Architekturgeschichte des Barock ist. Ein Desiderat bleibt aber zu notieren: Für die Beurteilung Klengels wäre sicher auch das Verhältnis seines Konvoluts zu den anderen Skizzen und Skizzenbüchern des 17. Jahrhunderts aufschlussreich, von den Reiseskizzen eines Heinrich Schickhardt bis zu den beiden Bänden in der Bibliothek des Bayerischen Nationalmuseums. Dies bleibt eine Aufgabe für eine systematische Untersuchung des Phänomens der architektonischen Skizze.
Ulrich Fürst