Rezension über:

Gerhard Straehle: Die Marstempelthese - Dante, Villani, Boccaccio, Vasari, Borghini. Die Geschichte vom Ursprung der Florentiner Taufkirche in der Literatur des 13. bis 20. Jahrhunderts, München: Gerhard Straehle 2001, 336 S., 50 s/w-Abb., ISBN 978-3-936275-00-1, EUR 65,00
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Rezension von:
Ulrich Fürst
Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Fürst: Rezension von: Gerhard Straehle: Die Marstempelthese - Dante, Villani, Boccaccio, Vasari, Borghini. Die Geschichte vom Ursprung der Florentiner Taufkirche in der Literatur des 13. bis 20. Jahrhunderts, München: Gerhard Straehle 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 7/8 [15.07.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/07/3457.html


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Gerhard Straehle: Die Marstempelthese - Dante, Villani, Boccaccio, Vasari, Borghini

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Geschichtsschreibung über die Entstehung von Architektur war in der Frühen Neuzeit in einem eigentümlichen Spannungsfeld angesiedelt, denn das bereits entwickelte und auch artikulierte Interesse an objektiven, durch Quellen belegten Daten - sei es nun humanistisch-philologisch oder archivalisch-rechtskundlich motiviert - wurde in vielen Fällen durch partikulare Intentionen überlagert. Der Bericht von Ursprung oder Stiftung eines Bauwerks in längst vergangener Vorzeit wurde häufig zum Anlass, das historisch-politische Selbstverständnis des Eigners zu bestimmen, seine aktuellen Ansprüche vorzutragen und zukünftige Ambitionen zu dokumentieren. In der Gründungsgeschichte ließen sich dynastische Linien von Fürstenhäusern betonen, monastische Institutionen in eine heilsgeschichtliche Perspektive rücken oder der patriotische Stolz städtischer Gemeinwesen vortragen.

Ein Lehrstück dafür ist die Geschichte von der Entstehung des "Battistero di San Giovanni", der Taufkirche von Florenz. Mehr als drei Jahrhunderte lang galt das romanische Bauwerk, dessen Entstehungszeit durch eine Gründungsweihe 1059 und die Errichtung der Laterne im Jahr 1150 markiert wird, als ein im Kern erhaltener antiker Marstempel, der in augusteischer Zeit durch römische Bauleute erbaut und lediglich durch die Errichtung der Laterne und die Anfügung eines Altarraums verändert worden sei. Diese in zahlreichen Publikationen vom 14. bis in das 17. Jahrhundert vertretene Meinung - darunter illustre Autoren wie Giovanni Boccaccio oder Giorgio Vasari - ist der Forschung bekannt. Bislang fehlte aber eine systematische Untersuchung über ihren Gehalt, ihre Motive und über ihre Wandlungen - ein Desiderat auch deshalb, weil die moderne Besprechung der legendarischen Auffassung mittlerweile selbst ihre Legenden hervorgebracht hat und sich häufig nur mehr an der Sekundärliteratur, nicht aber am Quellentext orientiert.

Dazu setzt nun Gerhard Straehle in seiner Studie über die "Marstempelthese" an, die eine Vielzahl von Quellenschriften heranzieht und sukzessive behandelt. Die Darstellung bleibt eng am Wortlaut der Texte, die umfangreich und teilweise auch in Übersetzung zitiert werden. Straehle bestimmt die spezielle Position des jeweiligen Autors, schließt auf dessen Intentionen und stellt die Wandlungen der Marstempelthese bis hin zu ihrer endgültigen Zerrüttung dar. Mit Auffassungen namhafter Forscher wie Davidsohn, Baron, Rubinstein und Wazbinski setzt er sich dabei vielfach kritisch auseinander.

In dem Kapitel über "Chronik, Dichtung und Historiographie im 14. Jahrhundert" wird die heute noch verbreitete Meinung destruiert, dass Dante die Auffassung vom antiken Ursprung des Baptisteriums hervorgebracht habe. Tatsächlich handelte es sich weniger um einen poetischen Einfall als um ein Konstrukt mit politischem Hintergrund, denn es war der Historiograph und Magistratsbeamte Giovanni Villani, der in einer Kombination älterer Überlieferungen die wichtigsten Momente der Marstempelthese geprägt hat. Entscheidend war der Ertrag für das städtische Selbstverständnis: in einem ihrer bedeutendsten öffentlichen Bauten erwies sich Florenz als legitime Erbin Roms, fähig sogar, Rom selbst in der Baukunst zu übertreffen. Die Entstehungsgeschichte des Baptisteriums war mit der behaupteten römischen Deszendenz des Gemeinwesens untrennbar verknüpft.

Ausführlich wird die weitere Verarbeitung der Marstempelthese bis in die Moderne hinein entwickelt, wobei für den Bereich der Frühen Neuzeit insbesondere die Kapitel über Patriotismus und Humanismus des 15. Jahrhunderts, über Florentiner Gründungsgeschichte im Florenz Cosimos I., über die Rezeptionsgeschichte im 17. und die Erledigung der Marstempelthese durch Bauuntersuchung und Quellenforschung im 18. Jahrhundert von Interesse sind. Das Buch bietet eine ausführliche und sorgfältige Diskussion der jeweiligen Versionen. Da sich gerade in der Abgrenzung der Standpunkte Wiederholungen ergeben, hat der Text auch seine Längen, doch treten immer wieder neue Akzente und interessante Momente zu Tage.

In der Stellungnahme des Staatskanzlers Salutati gegen die Schmährede des Mailänder Kanzlers Loschi ist ein defensives Moment klar erkennbar: als er die römische Deszendenz der Stadt wie eine offizielle Staatsdoktrin verteidigte, hielt er zwar den humanistisch-wissenschaftlichen Anspruch als Berufungsinstanz hoch, konnte ihn aber in Sachen Baptisterium nicht einlösen - ohne Umstände schlossen sich Salutati und noch entschiedener sein Nachfolger Bruni der Auffassung Villanis an.

Während Machiavelli in seiner ökonomisch-politisch argumentierenden Version der Geschichte von Florenz die Marstempelthese überging, war die Haltung Vasaris zum Baptisterium auffallend unentschieden. An verschiedenen Stellen seiner "Viten" stehen sich eine Kritik der ausdrücklich nachantik eingeschätzten Bauformen und die Lobrede auf den "tempio antico" gegenüber. Der Widerspruch zwischen einer fachkundigen architektonischen Beurteilung aus eigener Anschauung und dem Bekenntnis zur Lokaltradition, das sich auf Patriotismus, politische Rücksichtnahme und Wertschätzung des Baptisteriums durch Architekten wie Brunelleschi gründete, blieb letztlich unaufgelöst.

Auch in bildlichen Rekonstruktionen fand die Marstempelthese ihren Niederschlag. Nach Straehle hat Vasari - in der Darstellung des Tempels im Bild der Gründung von Florenz durch die Triumvirn in der 'sala grande' des 'palazzo vecchio' - drei verschiedene Momente kombiniert: einen römischen Tempeltypus, durch Münzbildnisse vermittelt, das erhaltene Baptisterium selbst und Villanis Nachricht, dass der Bau früher wie das römische Pantheon oben offen gewesen sei. Die immanenten Widersprüche dieses frei erfundenen 'mixtum compositum' spiegeln Vasaris unentschiedene Auffassung wieder. Beiseite gedrängt wurde seine Version durch die 1584 publizierte Rekonstruktion Vincenzo Borghinis mit ihren suggestiven Ansichten des "antiken" Marstempels.

Untragbar wurden die Widersprüche schließlich in der Darstellung del Migliores, der als persönliche "opinione" Argumente der Bauforschung und der Architekturgeschichte gegen die Marstempelthese ins Feld führte und dann doch wieder das Bekenntnis zur Florentiner "fama" folgen ließ. Damit war ein Wendepunkt erreicht, im 18. Jahrhundert folgten die kritischen Zurückweisungen Schlag auf Schlag: unter Berufung auf das Bauwerk selbst, auf seinen architekturgeschichtlichen Ort und auf Aspekte der Religionsgeschichte wurde die Ablehnung der Marstempelthese zum Gemeinplatz und eine Datierung in langobardische Zeit favorisiert.

Was Straehles Darstellung ausspart, ist die Rezeption des Baptisteriums in der Architektur. Er verweist zwar auf Filippo Brunelleschi und Wettbewerbsentwürfe für San Giovanni dei Fiorentini in Rom, doch stellt er diese Fragen, bei denen es immerhin um die Entstehung der Renaissancearchitektur geht, zukünftiger Behandlung anheim. Zu berücksichtigen wären dabei jedenfalls auch Bauten wie die mediceische Memorialkirche San Stefano della Vittoria bei Foiana della Chiana oder das monumentale Mausoleum der Großherzöge am Scheitel von San Lorenzo, die sich als oktogonale Kuppelbauten offenkundig am Muster des Baptisteriums orientieren.

Straehle hat ein durchweg eigenwilliges Buch vorgelegt, das in seiner hartnäckigen Gründlichkeit Forderungen an Aufmerksamkeit und Ausdauer des Lesers stellt; es ist bestimmt von philologisch geschulter Schärfe der Analyse und präziser, streitbarer Abgrenzung gegenüber anderen Forschern. Aber gerade dieser "unzeitgemäße" Ansatz hat es ihm ermöglicht, Gehalt und Entwicklungsstadien der Marstempelthese pointiert herauszuarbeiten. Zu bemängeln sind die wenigen Punkte, an denen Genauigkeit und Ausführlichkeit aussetzen. So fehlt die explizite Datierung der Beiträge von Villani und Boccaccio, während das Entstehungsdatum bei weniger wichtigen Schriften diskutiert wird. Ausgerechnet der Passus, in dem Villani seine politische Motivation bekundet, wird nicht in der gewohnten Ausführlichkeit zitiert. Neueste Literatur wie die einschlägigen Beiträge von Scorza und Williams in "Vasari´s Florence. Artists and Literati at the Medicean Court", Cambridge 1998, hätte noch berücksichtigt werden können.

Ungeachtet dessen wird jede weiterführende Untersuchung zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Florentiner Baptisteriums in Straehles "Marstempelthese" eine wertvolle Grundlage finden. Und mehr noch: in den Wandlungen der Marstempelthese hat der Autor einen Florentiner Mikrokosmos der Geistesgeschichte ausgebreitet, in dem sich ein Konflikt zwischen der in Anspruch genommenen wissenschaftlichen Wahrheit und den konträren Forderungen des politischen Selbstverständnisses exemplarisch abzeichnet.


Ulrich Fürst