Gunter Mahlerwein: Die Herren im Dorf. Bäuerliche Oberschicht und ländliche Elitenbildung in Rheinhessen 1700-1850 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Universalgeschichte; Bd. 189), Mainz: Philipp von Zabern 2001, XII + 468 S., 5 s/w-Abb., 4 Kart., ISBN 978-3-8053-2823-4, EUR 45,00
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Die Dissertation von Gunter Mahlerwein befasst sich mit den dörflichen Eliten in den sozialen, ökonomischen und politischen Wandlungsprozessen vom 18. zum 19. Jahrhundert. Sowohl inhaltlich als auch chronologisch - der Schwerpunkt liegt auf dem letzten Drittel des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - kann von einer Sattelzeitstudie gesprochen werden, wenn auch der Begriff in der Arbeit nicht benutzt wird. Im darstellerischen Mittelpunkt steht die Geschichte des kurpfälzischen Dorfes Alsheim und der Familie des 1794 geborenen Landwirts Georg Jacob Hirsch.
In der Sache verfolgt Mahlerwein einen anspruchsvollen und komplexen methodischen Ansatz einer Elitenforschung unter sich gegenseitig ergänzender mikro- und makrohistorischer Perspektive für die Analyse sattelzeitlichen Wandels der dörflichen Gesellschaft. In topografischer Hinsicht bezieht sich die Untersuchung auf sieben linksrheinische Dorfgemeinden - zwischen Oppenheim im Norden, Worms im Süden und Alzey im Westen gelegen - die im Ancien Régime der Kurpfalz, den Grafschaften Leiningen und Wartenberg sowie der Herrschaft Dalberg zugehörten, bevor sie sämtlich in napoleonischer Zeit dem Departement Donnersberg, anschließend der Provinz Rheinhessen des Großherzogtums Hessen-Darmstadt zugeordnet wurden. Ebenso wie die territorialen Zugehörigkeiten unterscheiden sich konfessionelle Strukturen sowie geografische Merkmale der Dörfer zwischen Rheinaue und rheinhessischem Hügelland, so dass der vergleichende Zugriff in der Tat Ergebnisse erwarten lässt, die weit über das Alsheimer und rheinhessische Beispiel hinaus von Interesse sind.
Inhaltlich ist die Studie in vier Hauptkapitel gegliedert. Zunächst befasst sich Mahlerwein mit den landschaftlichen und herrschaftlichen Strukturbedingungen, um anschließend das demografische Verhalten, die Besitzverhältnisse und den "materiellen Lebensstil" der dörflichen Oberschicht zu analysieren. Ein eigenes Kapitel ist sodann deren Rolle in der Agrarmodernisierung gewidmet, bevor ihr Verhalten als politische Funktionselite zwischen Staat, Gemeinde und dörflicher Gesellschaft im mit gut 150 Seiten ausführlichsten Kapitel eingehend beleuchtet wird.
Detailliert wird das demografische Verhalten der ländlichen Bevölkerung, insbesondere der bäuerlichen Oberschicht analysiert. Die Bäuerinnen und Bauern heirateten nach dem Tod eines Ehepartners in der Regel erneut und hatten mehr Kinder als die Handwerker und Tagelöhner. Zudem waren sie in der Lage, die relativ früh aus den Unterschichthaushalten ausziehenden Kinder als Gesinde aufzunehmen. Insgesamt wird ein erheblicher Bevölkerungszuwachs aus Geburtenüberschuss für die Region konstatiert, der sich in den Orten mit der geringsten Bevölkerungsdichte und den größten Nutzflächen am stärksten auswirkte. Wanderungsbewegungen, insbesondere die Abwanderung, scheinen dagegen erst seit den 1820er Jahren eine gewichtige Rolle in der Bevölkerungsentwicklung der rheinhessischen Dörfer gespielt zu haben.
Aus Schatzungslisten entwickelt Mahlerwein ein dreistufiges System sozialer Schichtung, das in der chronologischen Entwicklung vor allem den Trend des starken Zuwachses in der unteren Schicht bei gleichzeitigem Abnehmen der Angehörigen der Oberschicht verdeutlicht. Die große Kinderzahl in den bäuerlichen Oberschichten führt Mahlerwein nicht auf den Arbeitskräftebedarf zurück, der ebenso gut über Anstellung von Gesinde hätte gedeckt werden können. Vielmehr gehört zu den Bedingungen einer über viele Generationen tradierten Zugehörigkeit zur Oberschicht eine Zahl von acht bis zwölf Kindern pro Ehe, die zwar das "Aussterben" einer Familie verhindern konnte, aber die einzelnen Familienzweige angesichts zum Teil zahlreicher Erben mit einem erheblichen sozialen Abstiegsrisiko behaftete. Heiratsstrategien, welche die immer geringer werdende Möglichkeit, innerhalb des dörflichen Heiratsmarktes lukrative Ehepartner zu finden, zu Gunsten auswärtiger Verbindungen überwanden, sowie das Ausüben von gewerblichen Tätigkeiten (Wirt, Müller, Ziegelbrenner) neben der Landwirtschaft werden als Reaktionen dieses Risikos gedeutet.
Erst seit der Jahrhundertwende führten vor allem Repräsentationsbedürfnis und der Wille zur Distinktion der 'Herren im Dorf' zu einem materiellen Lebensstil, der sich deutlich sichtbar etwa im Hausbesitz und Ausstattung der Wohn- aber auch Betriebsgebäude sowie der Kleidung von demjenigen der übrigen Dorfbevölkerung abhob. Bei aller 'Verbürgerlichung' der Haushaltsausstattung der dörflichen Oberschicht insistiert Mahlerwein zurecht auf der Stadt-Land-Differenz: "Anders als in stadtbürgerlichen Haushalten, waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weder der Familienvater von schwerer körperlicher Arbeit noch seine Frau und die Kinder von Erwerbstätigkeit freigesetzt" (150, vergleiche auch 424).
Das Kapitel "Agrarmodernisierung" befasst sich mit Veränderungen der landwirtschaftlichen Produktionsweise, die im wesentlichen durch Erweiterung der genutzten und Verbesserung der vorhandenen Flächen, der Auflösung der Flursysteme, dem Zurückdrängen der Brache sowie dem Abschaffen der Gemeindeweide seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ermöglicht wurden. Die Steigerung der Ernteerträge durch Bepflanzung der Brache, Stallhaltung und die dadurch ermöglichte Jauchedüngung setzte aber darüber hinaus - und gerne übersehen - eine enorme Intensivierung des Arbeitseinsatzes von Menschen und Tieren voraus: Zwischen 1770/80 und 1830 musste auf einem Gut gleicher Größe mehr als die doppelte Arbeitsleistung (gerechnet in Tagwerken von Gespann- und Handarbeiten) erbracht werden; verbesserte Geräte haben vorerst keine größere Rolle gespielt. Während mehr als die Hälfte der Alsheimer Getreideproduktion in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Überschuss für den Markt produziert wurde, auch der Anteil des verfütterten Getreides zu Ungunsten des Eigenbedarfes und des zurückgehaltenen Saatgutes zunahm, nahm der Anteil der tatsächlich Überschüsse produzierenden Landwirte an der Dorfbevölkerung spürbar ab. Nicht zuletzt weist die Studie darauf hin, dass die enorme Steigerung der Ernteerträge bei Getreide (Weizen) das Ausscheiden der Klein- und Kleinstproduzenten aus der Getreideproduktion, die in dieser Zeit auf den Kartoffelbau umschwenkten, zu berücksichtigen hat.
Als wichtige Kommunikationsinstanz neuerer Verfahrensweisen in der Landwirtschaft fungierten die seit dem 17. Jahrhundert aus der Schweiz in die Pfalz eingewanderten Mennoniten, die über ein räumlich weites Kommunikationsnetz verfügten, einigermaßen unabhängig von Lokaltraditionen wirtschafteten und durch die ihnen auferlegten Abgaben unter dem Druck höherer Gewinne standen. Dem landesherrlichen Verordnungswesen sowie der agrarreformerisch einschlägigen Volksaufklärung misst Mahlerwein gegenüber dem erfolgreichen Beispiel der Mennoniten nur geringe Bedeutung zu. Erst das landwirtschaftliche Vereinswesen der 1830er-Jahre bot mit den vereinsinternen Periodika und Versammlungen sowie den erhebliche Teile der ländlichen Gesellschaft erreichenden landwirtschaftlichen Festen, die als Volksfeste inszeniert wurden, einen formalisierten und institutionalisierten Rahmen für eine agrarwirtschaftliche Diskussion, welche einen erheblichen Teil der Landwirte auch erreichte.
Im ausführlichsten Kapitel über "bäuerliche Oberschicht und lokale Herrschaft" geht es um die Bedeutung, welche das über Generationen regelmäßige Bekleiden lokaler Ämter für die Oberschichtbauern beziehungsweise deren Familien besaß. Mahlerwein entwickelt einen Begriff von "lokaler Herrschaft", der den Prozesscharakter von Macht, die Subjekthaftigkeit der Handelnden sowie die "Unselbständigkeit von Prozessen der Machtbildung" betont und somit ein geeignetes Instrument darstellt, unter Einbezug der Kommunalismus-These den Wandel ländlicher Herrschaftsstrukturen der Sattelzeit zwischen staatlicher Autorität, Gemeindeverfassung, dörflicher Gesellschaft und Eigeninteresse der Amtsinhaber zu beobachten (267ff.). Die Analyse nimmt insbesondere Faktoren der akzeptierten Legitimität der dörflichen Amtspersonen zwischen landesherrlicher Beamtenschaft und dörflicher Gesellschaft in Blick, um somit die Faktoren zu eruieren, die im Einzelfall den Handlungsspielraum der Ortsvorsteher ausmachten.
Die Aufhebung der Gemeindeweide etwa konnte die dörflichen Amtsträger in heikle Interessenkonflikte bringen: einerseits im Zuge agrarreformerischer Verordnungstätigkeit der landesherrlichen Obrigkeit von den Behörden gefordert und gefördert, widersprach sie den Interessen der Zugvieh besitzenden bäuerlichen Oberschicht, während Handwerker und Tagelöhner ohne Großviehbesitz ihre Subsistenzmöglichkeiten durch die Bewirtschaftung selbst kleiner Ackerparzellen deutlich verbessern konnten. Wenn nun die Betreiber der Austeilung ein Gesuch an die landesherrlichen Behörden richteten, die Obrigkeit habe die Armen vor den eigennützigen Interessen der reichen Pferdebauern zu beschützen und profitiere nicht zuletzt aus den für die Landausteilung von den Begünstigten zu erbringenden Novalzehnten, gerieten die dörflichen Amtleute unter unangenehmen Druck.
Kritisch war sodann die Einführung der französischen Verwaltung. Von allen Gerichtsfunktionen entkleidet war es vorrangige Aufgabe der Agents beziehungsweise Maires, die Entscheidungen einer tendenziell anonymen politischen Zentrale vor Ort zu vertreten; erstmals konnte das Argument der politischen Zuverlässigkeit Ämterkarrieren befördern beziehungsweise verhindern. Gleichzeitig anonymisierten sich die Protestformen, etwa durch nächtliches Beschädigen von Freiheitsbäumen, deren Aufbau auf Kosten der Dorfgemeinde dann durch die örtlichen Amtsträger besorgt werden musste. Ähnlich wird auch für die hessische Zeit resümiert, wobei das Prestige der Amtsinhaber nunmehr neben der durch sie vertretenen staatlichen Autorität auch dem Umstand einer mehrheitlichen Wahl durch die männlichen Haushaltsvorstände geschuldet war.
Ausblickend diskutiert Mahlerwein eine weiter zu entwickelnde These der Elitenbildung durch Kommunikation. Weiteten sich die Familienkreise der dörflichen Oberschicht bereits seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zusehends in die Region aus, wurde seit dem letzten Drittel dieses Jahrhunderts die Kommunikation unter (und über!) vorerst einzelne Innovatoren agrarwirtschaftlicher Verfahrensweisen zum wesentlichen Medium der weiteren Verbreitung der Agrarmodernisierung sowie die Kommunikation unter den Amtsträgern erheblich intensiviert, haben entsprechende Kommunikationskreise das "Selbstverständnis einer regionalen Elite" im frühen 19. Jahrhundert bereits geprägt und müssen schließlich als Voraussetzung gelten, in eine solche aufzusteigen beziehungsweise aufgenommen zu werden. "Kommunikation konstituierte Elite, sei es über die erhöhte Innovationsbereitschaft im Lebensstil und Wirtschaftsverhalten, über die politische Verständigung durch Amtstätigkeit und Gremienzugehörigkeit, durch die Entwicklung einer gemeinsamen Selbstwahrnehmung und einer Verständigung über gemeinsame Werte" (437).
Es mag eingewendet werden, dass die "Herren im Dorf" im Ergebnis wenig Unerwartetes bringen. Auch sprachlich ist Mahlerwein der pathetischen Geste in jeder Hinsicht abhold - es wird umfassend, präzise und detailliert argumentiert. Bedenkt man, dass ländliche, im Einzelfall dörfliche Lebensumstände der schlechthin typische Fall im Untersuchungszeitraum zu nennen sind, gewinnt die Aufgabe, sozialen, ökonomischen und politischen Wandel zwischen 1700 und 1850 methodisch integrativ historisch zu konturieren, erheblich an Relevanz. Diese Aufgabe ebenso solide wie unspektakulär gelöst zu haben, verdient Respekt. Gunter Mahlerwein ist eine beeindruckende Studie gelungen, die weniger durch die ambitionierte Diskussion (vermeintlicher?) Großthesen des gegenwärtigen historiografischen Diskurses glänzt als durch die souveräne Beherrschung methodisch durchaus disparater Zugriffe auf ein chronologisch, formal und inhaltlich breites Spektrum an Quellen, ohne dabei jemals seinen konkreten Untersuchungsgegenstand aus den Augen zu verlieren.
Fritz Dross